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Als Rudi Völler die Fassung verlor
Der DFB-Sportchef hat wieder schwere Länderspiele vor der Brust. Was passiert, wenn's nicht läuft, erlebte die Nation vor 20 Jahren - als Strück Fernsehgeschichte
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Eigentlich dachten die Deutschen ja, ihren Rudi Völler zu kennen. Dass er einmalig sei, hatten sie oft genug besungen, aber das schloss ja nicht aus, dass er mehrere Gesichter haben könnte. Wer daran bis zum 6. September 2003 gezweifelt hatte, sackte an diesem Abend im Fernsehsessel zusammen – oder sprang elektrisiert auf. Wie auch immer: Fast jeder dürfte heute noch wissen, wo er war, als der populärste Bundestrainer seit Franz Beckenbauer die Fassung verlor und Fernsehgeschichte schrieb.
Das Vorspiel lieferte seine Nationalmannschaft in Reykjavik. Statt der erhofften drei Punkte gab es nur einen Punkt – und nicht mal Tore. Die Heimat war enttäuscht, die EM-Qualifikation wackelte. Das Fernsehtribunal tagte gleich nach Abpfiff – in zwei verschiedenen Studios in der Hauptstadt Islands.
Moderator Gerhard Delling und der als Experte wie als Spielmacher gleichsam geniale Günter Netzer suchten nach Worten. Sie fanden zu einer Mischung aus Fatalismus und Resignation, vom tiefsten Tiefpunkt und der Krise der Samstagabendunterhaltung war die Rede.
Rudi Völler saß in einem Nachbarstudio, musste alles mitanhören, ehe ihn ARD-Moderator Waldemar Hartmann zum Interview bat. Der leutselige Bayer und der über die Maßen populäre Völler stellten in diesen wenigen Minuten Weichen für ihr weiteres Leben.
Hartmann wurde zu Völlers Punchingball, weil er eben gerade greifbar war, sein eigentliches Ziel waren Delling und Netzer. Man kann das in einer Kolumne nicht alles wieder geben, wenn die Niederschrift des ganzen Interviews, von Uli Hoeneß damals als „Weltklasse“ geahndet, schon Zeitungsseiten füllt.
Es war jedenfalls so, dass wir hinterher alle nicht mehr ganz sicher waren, ob es wirklich nur „ein(en) Rudi Völler“ gibt, wie nach dem Einzug ins WM-Finale 2002 tausendstimmig am Frankfurter Römer und fortan immer wieder gesungen wurde. Während seine Halsadern anschwollen, sprudelten aus Rudis Munde die nicht immer jugendfreien Wörter heraus. Garniert mit feinem Spott und Häme.
Wir zitieren aus dem etwas anderen Interview, das längst Kult geworden und Teil von Völlers Popularität ist, weil da einer ungeschminkt seinen Emotionen freien Lauf ließ: „So einen Käse will ich nicht mehr hören. So’n Scheiß. Das ist das Allerletzte. Wechselt den Beruf, das ist besser.“
Wenn er auch mit der bissigen Annahme, der perplex in seinem Stuhl sitzende Hartmann habe schon „drei Weißbier intus“ danebenlag, erntete er in der Branche viel Beifall für Sätze wie: „Dann soll der Herr Delling doch Samstagabend-Unterhaltung machen und keinen Sport. Dann soll er bei ‚Wetten dass‘ den Gottschalk ablösen.“ Oder: „Wenn Günter Netzer sagt, sie hätten früher auch mal ein schlechtes Spiel gemacht, aber danach zehn überragende – die zehn überragenden hätte ich früher gerne mal gesehen. Das muss noch vor dem zweiten Weltkrieg gewesen sein.“
Da stellte sich eine Löwenmutter knurrend vor ihre Jungen. Netzer und Delling wurden zugeschaltet und bekamen die Möglichkeit, sich zu wehren, aber gegen Völlers historischen Zornesausbruch kamen sie nicht an. Sein Motiv: „Wenn ich mich jetzt nicht wehre, bin ich untragbar. Was sich Ribbeck und Vogts früher haben gefallen lassen müssen, kann man mit mir nicht machen. Das ist mir die Sache nicht wert.“
Eine Kampfansage, die in einer Rücktrittsdrohung mündete und die Angreifer in den Medien, die das Idol eher selten in die Schusslinie rückten, bremsen sollte. Motto: Legt euch nicht mit Rudi an! Wenn ich gehe, seid ihr schuld!
Ihm stank schon länger, dass die Ansprüche zu hoch waren nach einer glücklich erreichten WM-Finalteilnahme 2002. Es mangelte an Weltklassespielern, abgesehen von Oliver Kahn und Michael Ballack. Immer wieder musste Völler Spieler aufstellen, die im Verein nur Reservisten waren. Es sei daher Zeit, „vom hohen Ross“ herunterzusteigen.
Da bat einer um Besonnenheit und strahlte selbst das Gegenteil aus. Es war nun plötzlich doch beste Samstagabendunterhaltung, die ARD verlängerte sogar die Sendezeit, um keinen weiteren Vulkanausbruch zu verpassen. Was am stärksten hängen blieb, war die Unterstellung Völlers, Hartmann habe schon drei Weißbier intus. Das musste der Moderator natürlich zurückweisen, was nicht für das prompt einfliegende Angebot der Paulaner-Brauerei galt.
Zehn Jahre machte „Weißbier-Waldi“ Werbung für das Gebräu und auch danach war er immer mal wieder im Biergarten zu sehen – für Werbespots. Hartmann verdankt Völler ein auskömmliches Rentnerdasein, hat er stets selbst betont.
Völler würde das Ganze gern ungeschehen machen und sagte viele Jahre später dem DFL-Magazin, das Interview gehöre zu den zwei Vorkommnissen in seinem Leben auf die er gerne verzichten würde. Das andere war die Spuckaffäre bei der WM 1990, als er und der Niederländer Frank Rijkaard vom Platz flogen, obwohl Völler nur Opfer und nicht Täter war.
Auch das kam live im TV und schrieb nicht zuletzt wegen des emotionalen Kommentars von Heribert Faßbender, der den argentinischen Schiri „schnell in die Pampas“ zurückschicken wollte, Fernsehgeschichte.
Heute hätte man dafür Faßbender zurück nach Leverkusen geschickt. Der andere Unterschied zwischen 1990 und 2003: Damals hatte sich Völler im Griff und wurde erst zum Vulkan, als kein Blitzlicht mehr an war. In den Kabinengängen von San Siro flogen die Fäuste. 2003 aber sah die Nation, was wirklich in Völler schlummerte.
Hartmann hat bis heute vergeblich versucht, Völler davon zu überzeugen, dass sein Frontalangriff Teil seiner Popularität sei. Recht hat er dennoch. Er hat sich gegen Angriffe gewehrt, nachdem sich einiges in ihm aufgestaut hatte, er hat viel objektiv Wahres über die deutsche Nörgelmentalität gesagt und sich für das Falsche entschuldigt. Die Branche huldigte ihm.
Bayer Leverkusens Manager Reiner Calmund attestierte ihm, Völler habe sich eben „wie eine italienische Mama vor die Familie gestellt“. Einer, dessen Zornausbrüche nicht minder gefürchtet waren, erteilte von höchster Stelle Absolution. Franz Beckenbauer: „Das hatte sich bei Rudi über Wochen aufgestaut und ist nun zum Ausbruch gekommen. Das ist menschlich.“ Und es kam an bei den Fans. Weshalb es für einen wie ihn immer noch Jobs im deutschen Fußball gibt.