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Abschied von Frank Mill: Das letzte Schlitzohr seiner Art
Er galt als Schlitzohr auf dem Rasen und wurde zu einer eigenen Marke in der Bundesliga. Nun ist Frank Mill im Alter von 67 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben und hinterlässt den deutschen Fußball in tiefer Trauer

IMAGO/Jan Huebner
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Von Pit Gottschalk
Wer Frank Mill ins Plaudern bringen wollte, durfte eines nicht: ihn auf die eine Szene ansprechen, die inzwischen vier Jahrzehnte zurückliegt und die seine Karriere trotzdem mehr prägte als alle 123 Bundesliga-Tore zusammen. Ich kann die Szene aus einem ganz persönlichen Grund nicht vergessen: Ich wurde an dem Tag, als sie passierte, volljährig und machte auf dem wohl größten Geburtstagsfest meines Lebens Witze darüber. Später, als ich Frank Mill kennenlernte, habe ich ihm diesen Fun Fact vorsichtshalber verschwiegen. Das war auch gut so: Er hasste diese Szene.
In seinem allerersten Spiel für Borussia Dortmund lief er, der neue Stürmer, aufs leere Bayern-Tor im Münchner Olympiastadion zu und musste den Ball nur mit dem Innenspann über die Torlinie befördern. Aber Frank Mill traf in jener 41. Spielminute am 9. August 1986 aus drei Metern nur den Pfosten. Das Ergebnis hat man vergessen (es war ein 2:2). Die Schlagzeilen bestimmte jahrelang seine Torheit vor dem Tor: „Ich wollte es machen wie Pierre Littbarski. Mein Plan: ausholen, den Ball zwischen die Füße klemmen und nach einem Übersteiger elegant einschieben.“
Ich musste an die Szene denken, als ich heute von seinem viel zu frühen Tod erfuhr, Wochen nach seinem Herzinfarkt in Mailand. Sofort kochten die Erinnerungen hoch, und ich muss gestehen: Ich schulde Frank Mill noch immer die Entschuldigung, dass seine Lebensleistung nicht auf einen Pfostenschuss beschränkt werden darf, wie das jetzt in zu vielen Nachrufen und auch in diesem hier geschieht. Und ich meine nicht die Titel, die er gewonnen hat. Weltmeister ist er 1990 geworden, Olympia-Dritter 1988, DFB-Pokalsieger 1989 mit dem DFB. Er war mehr als das.
Frank Mill ist vermutlich sogar der letzte seiner Art: ein Schlitzohr auf dem Rasen, wie’s Manfred Burgsmüller einer war. Beide waren nicht besonders schnell, nicht ausreichend stabil für robuste Zweikämpfe gebaut, keine Kopfballungeheuer und schon gar nicht lauffreudig, sobald der Trainer Defensivarbeit verlangte. Aber wehe, sie kamen in den Strafraum. Frank Mill machte 252 Buden in 648 Spielen für Rot-Weiss Essen, Mönchengladbach, Dortmund und Fortuna Düsseldorf und Manni Burgsmüller sogar hundert mehr. Nur Zufall, dass beide aus Essen stammen?
Man fragt sich bis heute, warum einer wie Frank Mill, der jahrelang Wortführer beim BVB war, bevor ihn Trainer Ottmar Hitzfeld aussortierte, nicht mehr als die 17 Länderspiele absolviert hat, die ihm Bundestrainer Jupp Derwall und später Franz Beckenbauer zugestanden haben. Ja, in der besten Phase seiner Karriere, Ende der 80er Jahre, war kein Vorbeikommen an Rudi Völler und Jürgen Klinsmann. Aber heute wäre jeder Trainer froh, wenn er im Sturm einen Instinktkicker wie Frank Mill hätte, der ballfertig begabt war und bei jedem Angriff einfallsreich.
Er hat mit seinen Heldentaten nie geprahlt in aller Öffentlichkeit, das machen Fußballer aus dem Ruhrgebiet ja grundsätzlich nicht. Er konnte seine Anekdötchen in kleiner Runde erzählen, eher bescheiden als übertreibend, man hörte ihm gerne zu. Darum liebten ihn die Leute auch: Frank Mill wurde ohne WM-Einsatz und Europapokaltriumphe zu einer Marke im deutschen Fußball, zu einer Personifizierung dessen, was uns manchmal im Fußball fehlt: Bodenständigkeit. Seine Schlitzohrigkeit wird in keinem Nachwuchsleistungszentrum beigebracht. Die kam von innen.
Das hat sogar Diego Maradona 1990 zu spüren bekommen. Als Deutschland den WM-Triumph mit der Nationalmannschaft in Rom feierte, erwischte Frank Mill beim verdutzten Argentinien-Star einen schwachen Moment und quatschte ihm, dem Trauernden, ohne Spanisch-Kenntnisse das Trikot mit der Rückennummer 10 vom Leib. Nicht Kapitän Lothar Matthäus oder Gegenspieler Guido Buchwald haben das geschafft – sondern Frank Mill, der Reservist ohne WM-Spiel. Heute hängt das Souvenir im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund. Er wollte, dass es alle sehen.
Frank Mill starb am 5. August 2025 im Alter von 67 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts.