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Finale vor 25 Jahren: Die verrückteste Nacht im Fußball

Der Kolumnist erinnert sich: Welche kleinen und großen Dramen sich in Barcelona abspielten, als Bayern gegen ManU verlor

Foto: Imago / PanoramiC

Inhaltsverzeichnis

Ich schickte meinen fertiggestellten Text via Laptop und Modem in die Redaktion und rief dort sicherheitshalber an. „Müsste jetzt alles da sein“, sagte ich dem Kollegen vom Spätdienst der Münchner Abendzeitung.

„Alles“ war ein Loblied in Worten, den grandiosen Champions-League-Sieg des FC Bayern am 26. Mai 1999 beschreibend. Den ersten seit 23 Jahren. Sehnlichst hatten alle darauf gewartet, ja, womöglich sogar vereinzelt wir Journalisten, denn das Gequatsche und Geschreibe vom Warten auf den Henkelpott hielt keiner mehr aus.

Und jetzt war es so weit. Die 90. Minute lief, der FC Bayern hatte Manchester United besiegt. Naja, das glaubten zumindest 90.245 Zuschauer im Camp Nou und Milliarden an ihren Fernsehern. Ich glaubte es auch. Fest. Mein Text: war fertig.

Dann brach die Hölle los.

ManU traf via Teddy Sheringham zum 1:1. Das passierte sehr laut. Meine Nebensitzer auf der Pressetribüne guckten alle fassungslos auf den Platz und sich gegenseitig an. Es war etwa 22.40 Uhr.

Weil ich ja noch einen Beitrag in der Schwebe hatte, griff ich erneut zum Hörer. „Ich glaube, ich muss mal an meinen Text ran“, schrie ich gegen den Jubel im Stadion meinen AZ-Kollegen an.

Der Steudel! bei Fever Pit’ch
Für den Newsletter schreibt Alex Steudel erfrischende Kolumnen.

Das war hart untertrieben. Ich musste nicht nur ran, das ganze Werk war jetzt Müll. Ich hatte die Bayern überschwänglich gelobt und in meiner Einzelkritik jedem Spieler die Note 1 gegeben.

Ich erinnere mich genau, was dann passierte. Ich beugte mich rechts runter, um das von mir bereits verstaute Laptop wieder aus der Tasche zu ziehen. Gerade, als ich nach unten schaute, hörte ich den Lärm des Jahres.

Es war aber kein Tor gefallen, wie ich vermutete. Manchester hatte nur eine Ecke rausgeholt. Eine stinknormale Ecke, doch die englischen Fans drehten komplett durch. Nie in der Geschichte wurde eine Ecke lauter bejubelt als an jenem 26. Mai vor 25 Jahren, dafür lege ich mein Handy ins Feuer.

Dann fiel das 2:1. Ole Gunnar Solskjaer.

Wir waren alle wie betäubt. Ich habe als Reporter so einiges erlebt. Aber sowas nicht vorher und nicht mehr nachher. Ich war schockiert, plötzlich taten mir diejenigen leid, über die ich berichtete. Den FC Bayern hatte die volle Härte des Fußballs getroffen. Und mir selbst tat ich auch leid.

Michael Tarnat: Überragende Leistung auf der linken Seite. Hatte Ryan Giggs im Griff. Note 1.

Hatte ich geschrieben. Stimmte natürlich null, aber mein cleverer Gedanke vor dem Spiel war: Wenn die Bayern gewinnen, kriegen sie alle die Bestnote. Wie dumm von mir.

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„Lass das mal mit dem Text“, sagte der Spätdienstler in München. „Wir richten das hier.“

Die Stunden danach? Wie im Tunnel. Als ich Trainer Ottmar Hitzfeld unten in den Katakomben entdeckte, wurde er gerade in einem Golfwägelchen zur Pressekonferenz gefahren. Das wirkte, als sitze einer hinten im eigenen Leichenwagen. Hitzfeld war totenbleich, er starrte ins Leere, sein Mimikprogramm war abgestürzt. So musste jemand aussehen, der innerhalb von zehn Minuten seine Familie, den Hund, seinen Job und das Eigenheim verloren hat. Und die Hausbank: obendrein bankrott gegangen. 

Es geschahen viele seltsame Dinge in jener Nacht. Mehmet Scholl kam im weißen T-Shirt zum Festbankett, das ja jetzt keines mehr war. Der Europameister und Uefacupsieger von 1996 lief mit einem fetten Eddingstift herum und ließ jeden, den er traf, auf seinem Shirt unterschreiben.

Ich erzähle diese Geschichte gern: vom Reporter, der noch nie ein Autogramm von einem Fußballer geholt, aber Mehmet Scholl eins gegeben hat. Aufs Schulterblatt, wenn ich mich recht erinnere.

Am nächsten Morgen standen wir im im Zubringerbus des Flughafens von Barcelona.  Journalisten und Spieler gemischt. Alle kaputt. Ich hatte ein Sakko an, stellte mich neben Oliver Kahn, der aussah, als empfinde er seine Entlassung als Bayern-CEO voraus, und Hitzfeld. Wieder überkam mich so ein Leichenwagengefühl, nur dass ich obendrein so richtig ausgelaugt war von einer kurzen Nacht.

Außerdem hatte ich erfahren, dass beim Bearbeiten meine Spielerkritik etwas schiefgelaufen war: Der Kollege hatte zwar die Texte geändert, aber die Noten vergessen.

Michael Tarnat: Mäßige Leistung auf der linken Seite. Hatte Ryan Giggs nie ganz im Griff. Note 1.

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Was sollte man machen? Ich war zu fertig, um mich richtig zu ärgern.

Ein dpa-Fotograf, der neben mir stand, sprang jetzt doch noch mal raus aus dem Bus und machte schnell ein Foto von der prominenten Besatzung. Ich dachte mir nichts dabei.

Als ich Stunden später in die Redaktion kam, lachten alle und deuteten auf mich. „Da kommt Brazzo“, riefen sie. Warum, das wurde mir erst klar, als ein Kollege das dpa-Foto zeigte, das inzwischen um die Welt gegangen war. Die Bildbeschreibung darauf lautete:

Die Spieler des FC Bayern München Hasan Salihamidzic (l) und Oliver Kahn (r) stehen am 27.05.1999 enttäuscht im Flughafenbus in Barcelona. Im Hintergrund Ottmar Hitzfeld.

Auf dem Bild erkannte ich glasklar: Kahn, Hitzfeld – aber keinen Hasan "Brazzo" Salihamidzic. Salihamidzic war ich.

In den Jahren danach lautete mein Spitzname in der Branche Brazzo.

Dieses Finale war das verrückteste aller Zeiten, ohne Zweifel. Die Bayern erholten sich aber schnell und gewannen zwei Jahre später ein fast ebenso verrücktes Triple.

Brazzo und ich waren auch wieder dabei.

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