Die wahre Stärke von Leverkusen
Alle schwärmen vom Angriffsfußball unter Trainer Xabi Alonso. Die Mathematik verrät aber das eigentliche Geheimnis des Bundesliga-Tabellenführers.
Guten Morgen, liebe Fußballfreunde!
Wenn die Deutsche Fußball-Liga (DFL) Statistiken zum Bundesliga-Spiel liefert, können die Zahlen in ihrer Nüchternheit Geschichten erzählen. Zum Beispiel teilt uns die DFL mit, dass Bayern München bei der 0:3-Pleite in Leverkusen „nur auf einen Expected-Goals-Wert von 0,3“ kommt. Und fügt fast süffisant hinzu: „Für den deutschen Rekordmeister ist das der niedrigste Wert seit Einführung der Bundesliga Match Facts (2019/20).“ Seit fünf Jahren also.
Einfache Mathematik bringt ein bisschen Anschaulichkeit ins Zahlenwerk. Dazu muss man wissen: „Expected Goals“ (übersetzt: erwartete Tore) gibt die Summe aller Torwahrscheinlichkeiten in einem Spiel wieder. Die Bayern hätten also, rein statistisch, drei Spiele in dieser Form bestreiten müssen, um einen Treffer gegen Leverkusen zu erzielen. Erst hier erkennen wir die Klasse des Bayern-Gegners: Die Alonso-Mannschaft stellte nicht nur Torjäger Harry Kane (24 Saisontore) kalt.
Auch seine Sturmkollegen, zum Beispiel Leroy Sané, fanden kein Mittel gegen die Abwehrarbeit von Bayer 04 Leverkusen. Kein Wunder. Man schwärmt zwar vom Angriffsfußball, den Florian Wirtz inszeniert. Aber die Bayern schossen sogar vier Tore mehr in dieser Bundesliga-Saison. Nein, das Prunkstück ist die Abwehr: Nur 14 Gegentore erlaubten Tah und Co. an bislang 21 Spieltagen. Mathematisch: 0,66 pro Spiel. Ein meisterlicher Wert, der Sicherheit und Selbstvertrauen gibt.
Nun sind fünf Punkte kein Vorsprung, der unaufholbar ist. An den restlichen 13 Spieltagen stehen 39 Punkte zur Disposition. Was die Bayern-Jagd aber so schwer machen wird: Bayer Leverkusen ist keine Mannschaft, die allein durch ein wöchentliches Feuerwerk im Sturm punktet. Wenig Gegentore bedeuten auch: Stabilität in Krisenmomenten. Der Tabellenführer ist jetzt seit 32 Pflichtspielen unbesiegt. Solche Kaliber fallen nicht einfach um. Auch nicht bei Mathe-Aufgaben.
Einen ausgerechneten Montag wünscht
Euer Pit Gottschalk
⚽️ „Ich bin Ich“ statt „Mia san Mia“
Von Alex Steudel
Die Bayern haben am Samstag auf mich gewirkt wie Unsterbliche, die gar nicht glauben können, dass drei Pfeile in ihrem Bauch stecken und die Atemnot einsetzt. Das 0:3 in Leverkusen hatte den Sound von: Ende einer elfjährigen Ära der Unsterblichkeit, zusammengefasst in 90 Minuten.
Ich hatte zwar vorher selbst auf einen Heimsieg im Spitzenspiel getippt, aber auf ein eher hart umkämpftes 3:2 für Bayer. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm werden könnte. Mit solchen Ausfallerscheinungen beim Rekordmeister. Dass wie vor dem 1:0 ein Ball durch den Bayernstrafraum kullern würde wie über einen Spielplatz, während sich die Eltern fragen: Guck mal ein Ball, wem gehört der denn?
Vor allem hätte ich es nie für möglich gehalten, dass Thomas Tuchel diese Mannschaft dermaßen nicht in den Griff bekommen würde. Das muss man aber jetzt, nach dem Debakel in Leverkusen und einem Fünf-Punkte-Rückstand auf Team Alonso feststellen.
Thomas Müller versuchte sich in verklausulierter Selbstkritik: Im Training gelinge ja alles, komischerweise aber nicht in den Spielen. Wenn das, was im Training klappt, auf dem Platz schiefgeht, liegt der Fehler aber nicht unbedingt bei den Fußballern allein: sondern an den Rahmenbedingungen. Der passenden Taktik, der Ansprache vor dem Anpfiff und nach dem Abpfiff. Man nennt es auch: Führung.
Wenig davon gelingt Tuchel momentan, zumindest wirkt es so. Über seine seltsame Leverkusen-Taktik werden sich Experten noch in zwei Jahren die Köpfe zerbrechen, die Bayern-Profis waren gleich überfordert. Und warum rennt eigentlich ein frisch verpflichteter 30-Millionen-Rechtsverteidiger links? Wieso rücken Innenverteidiger nach außen? Wieso sitzt Joshua Kimmich auf der Bank, und ein Spieler kommt stattdessen zum Einsatz, dessen Schreibweise ich erst googeln muss?
Manchmal habe ich das Gefühl, Tuchel denkt, er sei größer als der Fußball. Fußball kann aber so einfach sein. Eine repräsentative Fanumfrage hätte am Samstag vermutlich eine schlagkräftigere Startelf ergeben als wochenlanges Tuchelgrübeln. Sogar der große Pep Guardiola hat irgendwann festgestellt, dass zu kompliziert zu schlecht ist. „Fußball ist keine Mathematik“, hat mal Kalle Rummenigge, der Chefempathiker des deutschen Fußballs, gesagt.
Vielleicht liegt es auch noch an etwas Anderem: Mir fällt immer wieder auf, wie wenig Tuchel eigentlich zu den Bayern passt. Wie distanziert er wirkt.
Die Bayern sind „Mia san Mia“, aber Tuchel ist „Ich bin Ich“.
Der Trainer verkörpert nicht die Grundtugenden des Vereins: gewinnen, ein bisschen arrogant sein, noch mal gewinnen, zwischendurch familiär menscheln, dann schnell wieder gewinnen.
Tuchel ist sarkastisch, ironisch, witzig, er wirkt oft kühl und ich-bezogen. Immer wirkt er: distanziert. Mich beschleicht das Gefühl: Wenn Tuchel morgen weg ist, hinterlässt er in München keine Lücke.
Ist er morgen weg? Ein schnelles „Nein“ aus dem Vorstand wie am Samstag ist im Fußballgeschäft ein eher schlechtes Zeichen.
Wie geht’s weiter? Normalerweise antworten die Bayern auf Krise mit Gemetzel. Am Mittwoch spielen sie in Rom, erstes Achtelfinale der Champions League. Das Kuriose an diesem Klub ist: Er zieht sich fast immer an den eigenen Haaren aus dem Sumpf. Mia san Mia halt.
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Der Fanprotest gegen das Investorenmodell der Bundesliga eskaliert: Beim HSV-Spiel zeigte der Anhang von Hannover 96 ein Plakat mit ihrem Geschäftsführer Martin Kind in einem Fadenkreuz. Das Spiel wurde über eine halbe Stunde lang unterbrochen und stand kurz vor dem Abbruch. Kind wird angefeindet, weil er mutmaßlich gegen die Anweisung seines Vereins abgestimmt haben soll und das Investorenmodell befürwortet. Zum Video: Hier klicken!
Trotz Fanproteste: Die DFL bleibt stur
DFL-Präsidiumsmitglied Axel Hellmann hat den Forderungen der aktiven Fanszene nach einer Neuabstimmung in der Investorenfrage nach etlichen Protesten eine Abfuhr erteilt. „Wir haben eine gültige Stimmrechtsvertretung von Martin Kind gehabt. Das war die 24. Stimme. Wir können gar nicht, weil dieser Beschluss dadurch rechtswirksam geworden ist, einfach sagen: Wir stimmen neu ab“, erklärte Hellmann bei Welt TV.
„Das würde allen anderen Klubs, die daran beteiligt sind, auch eine rechtliche Möglichkeit geben, gegen eine solche Neuabstimmung vorzugehen“, sagte der Vorstandssprecher von Eintracht Frankfurt weiter.
24 der 36 Profiklubs hatten im vergangenen Dezember bei der Abstimmung über den Einstieg eines Investors bei der Deutschen Fußball Liga (DFL) mit Ja abgestimmt. Die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit war somit knapp erreicht. Kind spielt dabei eine zentrale Rolle. Der Geschäftsführer der Profiabteilung von Hannover 96 soll entgegen der Anweisung seines Vereins dafür gestimmt haben. Ohne Kinds Stimme wäre der Deal gescheitert.
„Wir müssen das Votum der Klubs ernst nehmen“, sagte Hellmann. Zuletzt hatten aber auch Vertreter von Bundesliga-Vereinen eine Neuabstimmung gefordert. In Hellmann ruft das Unverständnis hervor. „Es hat keiner der 36 Klubs innerhalb der Anfechtungsfrist danach eine Schrift beantragt, dass diese Abstimmung nicht rechtswirksam ist. Es hat auch keiner der Klubs widersprochen, als es um die Frage der geheimen Abstimmung ging“, führte er aus.
Die Proteste gehen Hellmann deutlich zu weit. Es sei so, dass „sich in den letzten Jahrzehnten aus Sicht der aktiven Fanszene Druck im kommerzialisierten Fußball aufgebaut hat“, sagte Hellmann. Dieser „bricht jetzt raus. Da müssen wir aufpassen. Wenn das bedeutet, dass wir am Ende auf einen Spielabbruch zulaufen, dann wird es den geben und dann wird der auch sanktioniert werden müssen.“
Laut Hellmann wisse die Fanszene genau, „wo sie bei uns Verantwortlichen und den Medien die Knöpfe drücken kann, auf die wir reagieren.“ Man dürfe aber „nicht jeden Protest gleich zum Bürgerkrieg ausrufen“, so Hellmann.
Stefan Effenberg im Doppelpass
Im Doppelpass ist Stefan Effenberg sprachlos, weil Jost Peter, Fanvertreter von „Unsere Kurve“, sich nicht im Namen der Fans für das Fadenkreuz-Banner mit Martin Kind entschuldigt. Zum Video: Hier klicken!