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Der schwarze Freitag von Paris

Wenn die Nationalmannschaft wieder einmal nach Frankreich reist, dürfte es einigen Spielern nicht nur aus sportlichen Gründen mulmig werden

Foto: Imago / Moritz Müller

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Wenn die deutsche Mannschaft Ende der Woche wieder einmal nach Frankreich reist und drei Tage später zuhause gegen die Niederlande spielt, dürfte es einigen Spielern nicht nur aus sportlichen Gründen mulmig werden.

Manuel Neuer, Antonio Rüdiger, Ilkay Gündogan und Thomas Müller jedenfalls verbinden mit dieser Doppelveranstaltung Terror, tiefe Ängste sowie eine Nacht auf Matratzen in einem Fußballstadion, das zu einem Kriegsschauplatz hätte werden sollen. Im Herbst 2015 zitterte Europa vor dem Terror des Islamischen Staates - und der machte auch vor dem Fußball nicht halt.

Ein Jahr vor der Europameisterschaft in Frankreich war der Test gegen den Nachbarn ein guter Gradmesser dafür, wo Weltmeister Deutschland eigentlich gerade stand. Kritik gab es ja immer und nach einer nicht sonderlich glanzvollen Qualifikation auf den letzten Drücker gegen Georgien (2:1), ohne Siege gegen Irland (1:1 und 0:1) und mit der ersten Niederlage überhaupt gegen Polen (0:2) war es höchste Zeit für ein überzeugendes Spiel. Die Gelegenheit bot sich dem Team von Bundestrainer Joachim Löw am 13. November 2015 in Paris; ein Tag, der in die Geschichte eingehen sollte – aber nicht wegen eines Fußballspiels.

Nicht nur die Welt war im Aufruhr im Herbst 2015, als Flüchtlingswellen und Terrorattacken die Menschen in Westeuropa beschäftigten.

Auch der deutsche Fußball war durch Enthüllungen des „Spiegel“ über die Vergabe der WM ins Wanken geraten. Unmittelbar vor der Paris-Reise des Weltmeisters musste Präsident Wolfgang Niersbach zurücktreten. Teammanager Oliver Bierhoff beteuerte, es habe wohl "keine Bedeutung für die Mannschaft".

Im Kader standen noch 13 Weltmeister von 2014, Mesut Özil und Toni Kroos wurden geschont. Erstmals dabei waren der Frankfurter Torhüter Kevin Trapp und der 19jährige Schalker Leroy Sané. Premiere hatte auch das EM-Trikot, das die Auswahl sieben Monate später wieder in Frankreich tragen würde. Auf die Premiere, die sich dann aber ereignen sollte, hätten Spieler und Zuschauer gut verzichten können. An jenem schwarzen Freitag, dem 13., gab es in Paris 130 Tote, während der Ball im Stade de France rollte. Die meisten im Schauspielhaus Bataclan, wo Islamisten bei einem Konzert ein Massaker veranstalteten.

Noch viel mehr Menschen sollten nach dem teuflischen Plan der Terroristen sterben, und ein Fußballstadion mit 80.000 Menschen, unter ihnen Frankreichs Staatspräsident Francois Holland und Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, schien ihnen ideal für ihr Ansinnen.

Der Tag hat für die Deutschen schon schlecht begonnen: mit einer Bombendrohung im Teamhotel, das für einige Stunden geräumt werden muss. Unangenehm, aber nicht ganz ungewöhnlich im Leben von Prominenten. Es ist ein blinder Alarm, wie meistens.

Das Spiel am Abend verläuft zunächst ohne besondere Vorkommnisse. Nur zwei Explosionen sind zu hören, in Spielminute 17 und 20. Keiner weiß warum, und so wird weiter gespielt. In der Halbzeit sind die Schläge kein Thema in Joachim Löws Ansprache, "weil keiner etwas wusste", wie Jerome Boateng erzählte.

Aber dann spricht es sich herum, das Internet verbreitet Nachrichten in Echtzeit, und ein Fotograf berichtet Kollegen von fünf Todesopfern. Im Kicker schildert Chefreporter Karlheinz „Carlo“ Wild seine Gefühle: "Der Ball rollt weiter, die Augen verfolgen das Spiel und schweifen oft nach oben, über dem Stadion kreist ein Hubschrauber." Präsident Hollande, über den Ernst der Lage ins Bild gesetzt, verschwindet zur Halbzeit und kommt nicht zurück auf seinen Platz, Steinmeier bleibt. Das Spiel wird zur Nebensache, Frankreich gewinnt mit 2:0 durch einem Elfmeter von Oliver Giroud (45.) und einen Kopfball von Gignac (86.), aber es gibt keinen Sieger an diesem Tag des Schreckens.

Die Zuschauer geraten nach Abpfiff in Panik, weil das Gerücht umgeht, es seien Attentäter vor dem Stadion und strömen ziellos übers Feld, weil nicht alle Ausgänge geöffnet sind. Kinder weinen. Tausende verharren auf dem Rasen. Auch Carlo Wild erhält einen Anruf seiner Tochter, die es im deutschen Fernsehen gehört hat und warnt ihn: "Sperr Dich in der Toilette ein!" Doch es kommt kein Terrorist ins Stade de France.

Aber drei Selbstmordattentäter haben es versucht. Allmählich wird klar, welcher Art die lauten Schläge waren.

Der erste, auffällig nervöse, Attentäter wird von dem Ordner Salim Toorabally (Honorar: 50 Euro) gestoppt. Der Terrorist hat kein Ticket und will sich durchs Drehkreuz zwängen – doch nicht mit Salim: "Kein Ticket, kein Einlass."

Der Attentäter gibt vor, ein Cousin habe sein Ticket, aber das zieht nicht. Er gibt nicht auf und läuft zu einem anderen Eingang, doch Salim hat die Kollegen schon gewarnt. Weil er auch dort nicht hineinkommt, zündet Bilal H. seinen Sprengstoffgürtel außerhalb des Stadiongeländes, dabei reißt er einen Passanten mit in den Tod. Auch der zweite Attentäter schafft es nicht ganz bis ins Stadioninnere und zündet die Bombe vorher, vielleicht hat man ihn auch entdeckt.

Der dritte Fanatiker zündet die Bombe 300 Meter vor dem Stadion und stirbt ebenfalls alleine für seinen Fanatismus.

Aber wie viele sind es noch?

Die Gefahrenlage wird noch lange nicht aufgehoben und Polizisten mit Maschinengewehren tragen nicht wirklich zur Beruhigung bei. Zuschauer und Journalisten haben nur eine Sorge: wann und wie kommen wir hier weg? Das Stadion liegt sieben Kilometer außerhalb der Stadt und in einem Zug gäbe es kein Entrinnen vor einem Attentäter. Pressekonferenz und Mixed-Zonen-Interviews werden abgesagt und werden auch nicht weiter vermisst an so einem Tag.

Die deutsche Mannschaft soll aus Sicherheitsgründen nicht mit dem auffälligen Teambus ins Hotel zurück und verbringt die Horrornacht in den Katakomben, ein Novum in der DFB-Geschichte. Bei ihr sind der Staff und etliche solidarische französische Spieler, die Matratzen und Decken bringen. Auf 70 Quadratmetern drängeln sich 60 Menschen. Zu essen gibt es Hotdogs und Sandwiches.

Um 1.30 Uhr ruft Kanzlerin Angela Merkel bei Oliver Bierhoff an und erkundigt sich nach dem Befinden.

Um 2.30 Uhr klingelt DFB-Interimspräsident Reinhard Rauball den Innenminister Thomas de Maiziere aus dem Bett mit der Bitte um eine frühere Flugverbindung in die Heimat, statt Sonntag wollen sie schon am bereits angebrochenen Samstag die Stadt der Liebe und nun des Terrors verlassen. Die Lufthansa macht es möglich.

Die letzten deutschen Journalisten werden derweil um 2.45 Uhr aus dem Stadion gebracht, unter Polizeischutz zur U-Bahn geleitet. Die Mannschaft bleibt bis sieben Uhr morgens in der Kabine und Lukas Podolski wird zugeben: "Es war eine unruhige Nacht, wir alle hatten Sorgen."

Laut Rauball "haben viele nicht geschlafen und die ganze Nacht geredet, um das Geschehen in irgendeiner Form zu verarbeiten".  Abwehrchef Jerome Boateng: "In solchen Situationen ist Fußball überhaupt nicht wichtig. Auch wenn man immer sagt: ‚Fußball ist mein Leben‘." Wenn das jemand unterstreichen kann, dann Frankeichs Nationalspieler Lassane Diarra, dessen Cousine zu den 130 Terroropfern der Nacht gehört.

Die deutsche Mannschaft gibt am nächsten Tag eine Stellungnahme ab: "Wir haben die Nacht im Stadion viel nachgedacht. Wir haben uns gefragt, warum so etwas passieren kann? Wie so viel Unmenschlichkeit möglich ist? Antworten haben wir viele gefunden, aber keine, die diese feigen Anschläge erklären kann. Wir haben am Freitag ein Fußballspiel verloren – und es gibt nichts, was in diesem Moment unwichtiger war."

Mats Hummels wird noch deutlicher: "Unglaublich, was passiert ist. Diese Welt ist jetzt wirklich beschissen."

Zurück in der Heimat, folgt dem Schock ein Jetzt-erst-recht-Gefühl. In Hannover gegen die Niederlande soll am Dienstag, 17. November, auf jeden Fall gespielt werden. Die gesamte Bundesregierung hat sich angekündigt. Vize-Kanzler Siegmar Gabriel: "Es ist gut und richtig, dass das Länderspiel trotz der Attentate stattfindet." Es findet dann doch nicht statt. Um 19.09 Uhr wird die HDI-Arena in Hannover wegen eines ernst zu nehmenden Hinweises auf ein Sprengstoffattentat rund 90 Minuten vor Anpfiff geräumt und Minister de Maiziere wird auf die Frage nach den Gründen die berühmtesten Worte seiner Amtszeit sprechen: "Ein Teil meiner Antwort würde die Bevölkerung verunsichern."

Wer all das hautnah miterlebt hat, muss für jedes Fußballspiel, das ohne Störungen über die Bühnen geht, eigentlich sehr dankbar sein. Aber die Menschen vergessen schnell.

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