Wie habe ich das genossen, als sich alle über den HSV-Elfer aufregten!
Weil es in der Frühphase des DFB-Pokals keinen Videobeweis gibt, erleben die Zuschauer den Fußball, wie er früher mal war - nämlich ursprünglich, leidenschaftlich und manchmal ungerecht

IMAGO/Michael Weber
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Natürlich versteht man Trainer Frank Schmidt sofort. Der Strafstoß, der seine Heidenheimer gegen den Hamburger SV aus dem DFB-Pokal warf, war keiner. HSV-Profi Fabio Vieira ging wie ein Leichtgewicht im Boxring zu Boden, als ihn Gegenspieler Julian Niehues im Strafraum berührte. Kein Videobeweis durfte bei der Aufklärung helfen – es gibt keinen in dieser Pokalrunde. Frank Schmidt drehte durch, fand nie mehr zum Ruhepuls zurück und flog später sogar mit Gelb-Rot vom Platz. Und das alles wegen des Elfmeters.
Ich muss zugeben: Ich habe die Situation genossen. Nicht weil Frank Schmidt, dieser sympathische Erfolgstrainer des 1. FC Heidenheim, so qualvoll litt. Sondern weil wir bei der Live-Übertragung aus der Fußballprovinz Zeuge wurden, wie unser Fußball mal war: emotional, ursprünglich und manchmal ungerecht. In Heidenheim werden sie noch Wochen davon erzählen, wie beschissen sie sich gefühlt haben. Man kann Frank Schmidt nur versichern: Schiedsrichter Benjamin Brand hat nicht absichtlich falsch gepfiffen.
Für ihn war die Situation offensichtlich: Foulspiel und Strafraum gleich Elfmeter – Ende der Diskussion. Die erhitzten Gemüter brachten ihn von seinem Urteil nicht ab. Warum auch? Er hat das entschieden, was er in diesem Augenblick wahrgenommen hatte. So war der Fußball früher: unmittelbar, leidenschaftlich und in den Händen des Schiedsrichters. Seit zehn Jahren gibt’s das in der Bundesliga nicht mehr. Es regiert der VAR. Und was das bedeutet, erlebte ich keine Stunde später beim deutschen Frauen-Länderspiel im ZDF.
Videobeweis: Das Gegenteil beim Frauen-Länderspiel
Gegen Frankreich gab’s ebenfalls zwei umstrittene Szenen. Die eine ging mir besonders auf den Keks: Die Schiedsrichterin hatte längst auf Tor für Deutschland entschieden, als sich der Video-Assistant Referee (VAR) aus dem Nirgendwo einschaltete, weil der Videobeweis in der Nations League Pflicht ist. Eine gefühlte Ewigkeit standen die Spielerinnen wie bestellt und nicht abgeholt auf dem Rasen und warteten, dazu das Schiedsrichtergespann, Trainer, Publikum, Ersatzleute und nicht zu vergessen: die Fernsehzuschauer.
Und nur weil eine Superlupe in Bruchteilen eines Millimeters Abseits erkannt haben wollte, wurde der kompletten Dynamik, die in diesem Spiel steckte, der Stecker gezogen. Das ist der moderne Fußball: Für ein bisschen mehr Gerechtigkeit geht die Emotion flöten. Hier ist der Schiedsrichter ein Knecht der Technik: Am Ende sagen Fernsehbilder, was richtig und was falsch ist. Das wunderschöne Tor von Nicole Anyomi: aberkannt und schon in Sekundenschnelle aus allen Statistiken gestrichen. Wollen wir das wirklich?
Die zwei Tore, die den Weltfußball seit einem halben Jahrhundert aufregen, wären bei einem Videobeweis niemals anerkannt worden: Englands drittes Wembley-Tor gegen Deutschland im WM-Finale 1966 und Diego Maradonas Handtor gegen England bei der WM 1986, das Jahrhunderttor. Nicht auszudenken, was dem Fußball dadurch verloren gegangen wäre. Die herzzerreißenden Diskussionen, die Zitate von Maradona („Hand Gottes“), Historisches und Hysterisches. Der Fußball von heute ist dagegen wie NFL: ein Fall für Bildschirm-Akrobaten.
Mitleid mit Frank Schmidt müssen wir übrigens nicht haben. Er selbst profitierte damals im Aufstiegskampf der 2. Liga, als der VAR bei einer umstrittenen Elfmeterszene zu seinen Gunsten geschlafen hat und er mit dem 1. FC Heidenheim im Fernduell mit dem HSV aufstieg. Daran erinnern ihn die Hamburger jetzt, als er sich so mächtig aufregte. Es gibt da einen schönen Satz, der keiner empirischen Überprüfung standhalten würde: „Beim Fußball gleicht sich alles aus.“ Wäre das nicht herrlich! Leider stört nur der VAR dabei.



