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Es hat sehr, sehr lange gedauert, und doch hat Deniz Undav vergleichsweise Glück gehabt. Es gab ja Zeiten, da wurden Berühmtheiten erst posthum berühmt – beispielsweise Vincent van Gogh, dessen beispiellose Karriere nach eher unterdurchschnittlich gelungenen Stationen in Holland, Belgien und Frankreich erst elf Jahre nach dem eigenen Ableben begann.
Beim Fußball geht sowas bekanntlich nicht, und doch erlebt der Stuttgarter Undav seinen Durchbruch wirklich ziemlich spät, mit 27einhalb, was fußballerisch gesehen kurz vor Ablaufdatum ist. Aber immerhin atmet er noch und ist in Vollbesitz beider Ohren.
Neun Stationen in ebenfalls drei Ländern hat's gebraucht, bis wir und eine tiefschlafende DFB-Scoutingabteilung auf den türkischen Deutsch-Kurden aufmerksam geworden sind – und nach dem 2:0 des VfB im DFB-Pokal-Achtelfinale gegen Dortmund hat er nun endlich gesagt, was 78 Prozent der Deutschen hören wollten: Dass er für Deutschland spielen möchte.
Ein Glück.
Das heißt, gesagt hat er das so nicht, gesungen auch nicht und gemalt schon gar nicht. Er hat sich in die Nationalelf zitiert. "Einigkeit, Recht und Freiheit", antwortete er am Mittwochabend nur auf die Frage, ob er für die Türkei oder Deutschland spielen wolle, und das klang je nach Auslegung ein bisschen so: Ich spiel' doch nicht für Unrecht und Unfreiheit, Leute!
Wie auch immer er es gemeint hat: Sowas hat's noch nie gegeben.
Aber es ist gerade sowieso alles anders. Zusammen mit Serhou Guirassy bildet Undav beim Sensationsligadritten VfB Stuttgart das neue magische Zweieck. 24-mal haben sie in der Bundesliga getroffen und 29 Scorerpunkte gesammelt.
Undav ist ein Vollblutfußballer; unberechenbar, tut nichts, wie er soll, verwirrt alle. Also genaugenommen macht er es wie die restlichen Nationalspieler zuletzt, nur anders halt, weshalb kürzlich Bundestrainer Julian Nagelsmann angerufen und gefragt hat, ob er für Deutschland spielen möchte.
Undav hätte "Nein, danke!" sagen und auf einen anstehenden Fototermin beim türkischen Präsidenten hinweisen können. Hat er aber nicht, was vermutlich auch ein bisschen damit zu tun hat, dass Kurden, zurückhaltend formuliert, nicht gerade die besten Kumpels von Recep Tayyip Erdogan sind. Nun wird Undav jedenfalls bald, vielleicht ja sogar bei der EM in Deutschland, Einigkeit und Recht und so weiter nicht nur sagen, sondern singen.
Ein Türke aus Achim/Niedersachsen bekennt sich trotz 22 AfD-Meinungsumfragen-Prozent zu Deutschland und zitiert dabei die Nationalhymne? Nicht dass mir die besonders wichtig wäre, aber so ein cooles Statement habe ich selten gehört. Was für ein sympathischer Typ.
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