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Schiris – die armen Mülleimer der Nation

Schiedsrichter Aytekin zeigt dem Mainzer Trainer Svensson Rot. Die Begründung ist umstritten.

Rot für Trainer Svensson. Foto: Imago / Eibner

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Von Alex Steudel

Im Netz tobt der Glaubenskrieg: Ist "Bist du blind?" eine Beleidigung des Schiedsrichters oder einfach nur eine sorgenvolle Frage? Die Stimmung bei Twitter war gestern eher pro-blind. Eine Rote Karte für den Mainzer Trainer Bo Svensson, der Deniz Aytekin diese Frage nach dem Bayern-Spiel gestellt hatte, sei völlig übertrieben und zeuge von Dünnhäutigkeit des Unparteiischen, habe ich sehr oft gelesen. Ich gebe zu, ich bin mir da nicht sicher. Mir wäre es lieber, wenn die Schiris in Ruhe gelassen würden; denn was früher womöglich witzig war, spornt heutzutage die Verrückten an und artet hinterher zu Morddrohungen aus, leider.

Wie weit darf man nun gehen? Ich selbst gelte hier als Maßstab. Ich habe früher als Stadiongast selbstverständlich nie Schiedsrichter beleidigt. Also nie richtig. Ich rief bei Heimspielen der Stuttgarter Kickers allenfalls mal "Schiedsrichter, Telefon!", was nach Einführung des Smartphones allmählich an Witz verlor. Und dann war da natürlich der beliebte Schlachtruf "Schieber! Schieber! Schieber!" – ja, gut, den habe ich eventuell ein-, zweimal benutzt, er war aber nicht ernst gemeint und damals unproblematisch. Man konnte doch nicht ahnen, dass es später Berliner Wettbüros und Robert Hoyzer geben würde.

Die verkappte Drohung "Schiri, wir wissen, wo dein Auto steht!" habe ich auch gern geschmettert, sie war rechtlich gesehen unkritisch, denn irgendwo muss es ja stehen, das arme Auto, und tatsächlich wusste früher niemand wirklich, wo der von der Gastmannschaft finanzierte Porsche Turbo des Mannes in Schwarz geparkt war. Heute funktioniert das mit dem Auto nicht mehr, weil Schiedsrichter mit dem ICE anreisen, außer vielleicht zu Heimspielen des VfL Wolfsburg. Dem Ruf "Schiri, wir wissen, wo deine Bahncard steckt" fehlt es jedenfalls an Würze.

Begriffe wie "Schwarze Sau" oder "Blinder" oder eben die Frage "Bist du blind?" gingen mir als Fan nie über die Lippen. Bei genauerem Nachdenken möchte ich aber nicht ausschließen, ein- bis zweimal das Wort "Hurensohn" benutzt zu haben. Ich kann mich dafür nur entschuldigen und mildernde Umstände geltend machen; Jugend, Fußball und drei Stadionhalbe sind eine enthemmende Kombination.

Illustration: Jens Uwe Meyer / bergfest.at

Andererseits: Prostitution ist genaugenommen legale Arbeit, und erst kürzlich habe ich gelesen, dass sich Prostituierte wünschen, der Begriff "Hure" möge nicht mehr als Schimpfwort betrachtet werden. Was also soll dann schlimm sein, Sohn einer Hure genannt zu werden?

Gut, das ist eine vielleicht etwas vergeistigte Betrachtungsweise, ich nehme sie gleich wieder zurück. Das Problem Schiedsrichterbeleidigung kommt sowieso woanders her: Es ist hausgemacht, das muss man sagen. Es gibt keine andere Sportart, die es den beteiligten Sportlern erlaubt, Schiedsrichter derart hart anzugehen, vollzulabern, zuzugestikulieren, ohne dass es dafür Konsequenzen gibt – z.B. in den USA ist so etwas ganz und gar undenkbar.

Es ist doch klar, dass dieser Dauerlamentier-Zustand auf die Trainer und die Zuschauer und die komplette Ersatzbank des FC Augsburg übergreift und sie regelrecht enthemmt. Letztere gilt ja inzwischen sogar als der Marcel Reich-Ranicki des Fußballs: immer laut, immer sauer, immer anderer Meinung. Gefühlt fordern Stefan Reuter & Co. bei jedem Spiel den Staatsanwalt dazu auf, die Ermittlungen gegen das Schiedrichterteam einzuleiten und am besten vor Ablauf der regulären Spielzeit eine lebenslange Sperre auszusprechen.

Ach ja, und dann ist da noch ein ganz anderes Problem. Wer mal bei einem x-beliebigen E-Jugendspiel aufwärts zu Gast war, weiß, was 1000-mal schlimmer ist als die Frage "Bist du blind?": deutsche Eltern.

Das neue Steudel-Buch ist da! Titel: "Die nächste Kolumne ist immer die wichtigste". 276 Seiten für 14,95 Euro. Wer das Buch sofort will: Hier bestellen! Wer ein signiertes Exemplar bevorzugt: Mail an post@alexsteudel.de.

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