Saarbrücken – die verrückteste Fußballregion Deutschlands
Drei Siege fehlen dem Drittligisten zur Europa League – solche Sachen sind sie im Südwesten aber gewöhnt
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Ich bin kein Fußballhistoriker, und doch stimmt alles, was in dieser Kolumne steht. Ich betone das vorab, weil ich im Grunde selbst nicht glauben kann, was folgt. Ich schwöre, ich habe es doppelt und dreifach gecheckt, also vertraut mir, außerdem hatte ich in der Schule Leistungskurs Geschichte.
Thema: Saarbrücken. Verrückteste Region Deutschlands.
Ursprünglich wollte ich nur darüber schreiben, dass sich im DFB-Pokal gerade ein Wunder anbahnt. Der 1. FC Saarbrücken könnte heute mit einem Sieg gegen Mönchengladbach ins Halbfinale einziehen. Das ist sogar wahrscheinlich, denn der Drittligist ist Favorit, schließlich hat er zuvor preisgekrönte Vereine wie Eintracht Frankfurt und Bayern München ausgeschaltet.
Die Gladbacher, Dreizehnte der Bundesliga, dürfen sich folglich in etwa so viele Hoffnungen auf einen Sieg machen wie Til Schweiger auf einen Film, den ich für gelungen halte.
Im Halbfinale könnte Saarbrücken auf den abschmierenden Zweitligisten 1. FC Kaiserslautern treffen (lockere Aufgabe), anschließend das Finale gegen den leicht überdurchschnittlichen Leverkusen-Besieger Fortuna Düsseldorf gewinnen – und sich damit endgültig für die Europa League qualifizieren.
Nur drei Siege fehlen Saarbrücken also zur Europa League. Nicht schlecht für einen Drittliga-Zwölften.
In Europa warten dann nach momentanem Stand der Dinge Tottenham Hotspur (Fünfter in England), AS Monaco (Fünfter in Frankreich) und AS Rom (Fünfter in Italien). Das wäre wirklich verrückt.
Ich frage mich, ob es heute zum Beispiel nach dem Training der Spurs zu folgendem Dialog kommen wird:
Richarlison: „Hey Cris, was machen wir heut‘ Abend?“
Cristian Romero: „Saarbrücken beobachten natürlich.“
Richarlison: „Ach, stimmt ja. Ich bring Schwenkbraten mit.“
Wer glaubt, dass es sich hier um eine absolut einmalige Konstellation handelt, hat sich geschnitten. Die Saarländer machen ständig so verrückte Sachen.
Nach dem 2. Weltkrieg traten sie zum Beispiel jahrelang unter dem Tarnnamen FC Sarrebruck in der zweiten französischen Liga an, wie mir Fever-Pit’ch-Kolumnist Udo Muras gestern verraten hat. Und das Wunder von Bern hätte womöglich nie stattgefunden, wenn die Saarländer 1954 ihr WM-Qualifikationsspiel gegen Deutschland gewonnen hätten.
Ich wusste bis gestern nicht mal, dass es so ein Spiel gegeben hat.
Saarland-Trainer war damals Helmut Schön. Der Mann mit der Mütze. Nach dem 1:3 gab der viel spätere Weltmeistertrainer seinem Gegenüber Sepp Herberger einen historischen Rat mit auf den Weg zur WM: „Wenn wir es nicht schaffen, dann schafft ihr es wenigstens“, soll Schön gesagt haben.
Heute streitet die Fußballwissenschaft darüber, ob das die einzige witzige Bemerkung war, die Helmut Schön in seinem ganzen Leben machte.
Es kommt aber noch besser.
Im November 1955 besiegte der Oberligist 1. FC Saarbrücken den AC Mailand in einem Europapokalspiel mit 4:3. Und das auswärts.
Noch mal zur Sicherheit: Das war so. Das ist keine Übung.
Und zwar siegten die Saarländer im selben Giuseppe-Meazza-Stadion, in dem 1990 Lothar die Jugoslawen und Klinsi die Holländer weghauten, und wo der FC Bayern 2001 die Champions League gewann.
Dieses Ereignis gilt heute als erstes Wunder in der Geschichte der Champions League (damals Europapokal der Landesmeister genannt, aber Champions League klingt aber besser).
Aber was hatte Saarbrücken überhaupt dort zu suchen?
Es passiert ja nicht alle Tage, dass ein Verein aus der Oberliga Südwest (!), der in der Vorsaison hinter Kaiserslautern (!!) und Worms (!!!) nur Dritter (!!!!) wurde, dafür mit einer Teilnahme am hochwertigsten Wettbewerb der Welt (!!!!!) belohnt wird. Strenggenommen passiert es nie.
Wie es dazu kommen konnte: Das Saarland war nach dem 2. Weltkrieg lange ein autarker Staat, besaß aber keine eigene Liga. Also wurde der 1. FCS 1955 als Oberligadritter zum besten Klub des Saarlandes erklärt, Problem gelöst.
Verrückt, oder?
Dass der Schiedsrichter beim 4:3 in Mailand ebenjener Schweizer Gottfried Dienst war, der elf Jahre später fälschlicherweise das Wembleytor gab, dass der Torwart von Milan Lorenzo Buffon hieß und ein Cousin von Gianluigi Buffons Großvater war, wirkt dagegen ganz und gar unwichtig.
Die Saarbrücker Mannschaft von Trainer Hans Tauchert schied damals übrigens mit einem 1:4 im Rückspiel aus.
Aber heute geht die Geschichte ja vielleicht weiter.
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