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MSV Duisburg: Als die Zebras die Bundesliga zertrampelten

Mit Trainer Ewald Lienen überraschte der MSV Duisburg 1993/94 alle Rivalen und sogar die Bayern - und war plötzlich Tabellenführer.

|21. Februar 2024|
MSV Duisburg: Als die Zebras die Bundesliga zertrampelten
MSV Duisburg: Als die Zebras die Bundesliga zertrampelten

MSV-Trainer Ewald Lienen mit Franz Beckenbauer 1994. Foto: Imago / Werek

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Wenn wir nach 22 Spieltagen auf die Bundesligatabelle schauen, suchen wir nach Superlativen oder Adjektiven, die der ungewohnten Situation gerecht wird. Bayern München, seit elf Jahren Meister, liegt acht Punkte hinter Bayer Leverkusen zurück. Kann man da überhaupt noch von einem Verfolger sprechen?

Einigen wir uns darauf: Es ist ein ausgesprochen seltenes Tabellenbild. Seltsam aber ist es nicht, da übertrifft auch nach 61 Bundesligajahren noch immer die Momentaufnahme der Spielzeit 1993/94 alles, als nach ebenfalls 22 Spieltagen eine Mannschaft Tabellenführer war, die dort wirklich niemand erwartet hatte und nicht einmal ein positives Verhältnis zu Toren hatte: Der ,MSV Duisburg regierte vor 30 Jahren die Liga – da wiehern ja die Zebras.                                            *

Vor der Saison 1993/94 wimmelte es nur so vor Titelkandidaten, niemand glaubte so recht an eine Bremer Ära – Werder hatte 1993 die Meisterschaft gewonnen, aber damit nur die Wut der Bayern und den Ehrgeiz der besonders stark aufrüstenden Dortmunder geweckt. Auch von Eintracht Frankfurt und Bayer Leverkusen wurde viel geredet, schließlich spielten dort mit Anthony Yeboah (Torschützenkönig) und Bernd Schuster (Rückkehr nach zwölf Jahren Spanien) zwei der neuen Superstars der Liga.

Ein Name, der nur bei den Abstiegskandidaten fiel, war der des MSV Duisburg. Eher glanzlos und nur nach einem Trainerwechsel auf der Zielgeraden der Saison aufgestiegen, erwarteten selbst die eigenen Fans nicht viel von den Zebras.

In einem Sat1-Buch zur Saison schrieb Torwart Jürgen Rollmann: „Das Duisburger Publikum, als kritisch verschrien und zu Beginn der Runde mit nur einer Bitte an die Mannschaft herangetreten, nämlich nicht gegen den Ruhrgebietsrivalen Schalke 04 zu verlieren, nahm eine fast schon devote Haltung an.“

Der Vorstand verstärkte die Mannschaft von Ewald Lienen zwar mit Uwe Weidemann und Thorsten Wohlert (beide Waldhof Mannheim) sowie Peter Közle (Grashopper Zürich), „aber selbst wir Spieler blickten skeptisch den kommenden Aufgaben entgegen.“ Trainer Lienen lebte nur für das Ziel Klassenerhalt und bereitete die Mannschaft akribisch auf die Spiele vor: „Wir glauben vor einem Match immer, gegen jeden Gegner schon zehnmal gespielt zu haben“ (Weidemann).

Und wie sich das für Lienen (Spitzname „Zettel-Ewald“) gehörte, bekamen die Spieler ihre Infos schriftlich. Manche Sitzung fand bei ihm zuhause statt, Frau Rosi kochte für alle, und während Asket Lienen zum Nachtisch Dominosteine aß, durften die Spieler auch mal ein Bierchen zischen.

Dass die Methoden Lienens zum Erfolg führen könnten, ahnten die Spieler spätestens nach dem fünften Spieltag, als sie weiterhin ungeschlagen aus Bremen zurückkamen – mit einem 5:1-Sieg! Lienen wehrte alle Glückwünsche ab und dachte nur „von Spiel zu Spiel“. Immerhin versprach er noch: „Wir wollen weiter eine gute Arbeit machen und Spaß haben.“

Daran hielten sie sichm und nachdem sie auch die Spiele gegen Bayern und den BVB (jeweils 2:2) sowie beim HSV (1:0) überstanden hatten, tönte Rollmann: „Den Höhenflug ausnutzen, bis zuletzt, das ist die Maxime.“ Es dauerte bis zum 11. Spieltag, als sie am Gladbacher Bökelberg erstmals bezwungen wurden (1:4).

Aufgrund des Frankfurter Rekordstarts (20:2 Punkte) war von der Tabellenführung noch keine Rede, man fühlte sich wohl auch auf Platz sechs. Aber wer schlug dann als erster die Eintracht? Genau, der freche MSV.

Nach dem Tor von Michael Preetz war der MSV Vierter, punktgleich mit den Bayern und, vor allem, die Nummer eins im Revier. Der BVB nur Achter, Schalke grüßte vom letzten Platz. Es war der Tag, an dem Jens Lehmann zur Halbzeit mit der S-Bahn nach Hause fuhr, während sein Team in Leverkusen 1:5 unterging.

Die erste MSV-Packung folgte dann auch: am 15. Spieltag ein 0:5 in Karlsruhe. Und trotz 18:12 Punkten war die Tordifferenz gleich null. Nach dem Prestigesieg gegen Schalke (1:0) und einem 2:1 bei Mitaufsteiger SC Freiburg beendete man die Vorrunde als Dritter – und als bester Aufsteiger seit 1965 (Bayern München). Zum Gipfel fehlte ein Sieg (zwei Punkte), in der Auswärtstabelle waren sie schon Erster.

In Gedanken blieben sie ein Zwerg, Lienen beteuerte: „Für uns zählen die Punkte gegen den Abstieg, wir definieren unsere Ziele nicht neu.“ Gut so, es folgten drei sieglose Spiele, als Siebter gingen sie nach 20 Spieltagen in die Winterpause – und doch nur zwei Punkte hinter Spitzenreiter Bayer Leverkusen. Es war die größte Spitzengruppe der Bundesligageschichte, keiner marschierte allen davon.

Die Bayern wechselten den Trainer, Franz Beckenbauer löste Erich Ribbeck ab, denn sie waren nur Dritter, und das war seit je her ein Platz unter Krise. Ins Jahr 1994 startete der MSV mit einem mühsamen 2:1 gegen Schlusslicht VfB Leipzig, sprang dafür auf Platz vier – bei einer Tordifferenz von minus zwei!

Dann kam er, der historische 22. Spieltag. Am 18. Februar 1994 reiste Meister Werder Bremen als Dritter und mit Revanchegelüsten für die 1:5-Schmach ins Wedau-Stadion. Dort hatte 1993/94 keiner gewonnen – und so würde es bleiben. Freitagabend, 21.000 auf den Rängen, Flutlicht und knochenhart gefrorener Boden – es konnte kein schönes Spiel werden, „technisches Feingebäck wurde nicht serviert“, dichtete der Kicker. Aber eine Flanke, die die Werder-Abwehr nicht verteidigte. Nach 75 Minuten bediente Stefan Böger den langhaarigen Kultstürmer Peter Közle, und der überwand Oliver Reck per Volleyschuss.

„Da haben wir doppelt gepennt“, schimpfte Reck. Als der verdiente Sieg dann feststand, grassierte allgemeine Fassungslosigkeit. Der MSV grüßte von der Spitze, mit 29:30 Toren. „Wenn mir das einer vor ein paar Monaten gesagt hätte, ich hätte an seinem Fußballverstand gezweifelt“, sagte der Präsident Dieter Fischdick.

„Ein Supergefühl, der reine Wahnsinn“, jauchzte Weidemann. Rollmann witzelte: „Ich habe nichts dagegen, wenn wir Meister würden und keiner hat’s gemerkt.“ Otto Rehhagel wurde gar sarkastisch und fand, „im Vergleich zum Hinspiel haben wir uns doch achtbar aus der Affäre gezogen“.

Noch glaubten alle, der MSV Dusiburg sei nur Primus für eine Nacht. Aber am Samstag verloren sowohl Leverkusen als auch die Eintracht. Nun war es Fakt: „Die Liga steht kopf“ (Kicker). Nur einer nicht. Trainer Ewald Lienen kam „nicht auf die Idee zu glauben, dass da was Gigantisches im Gange ist“. Er hatte ja so recht. Am nächsten Spieltag mussten sie zu den Bayern. Der Kaiser selbst ließ den Unfug beenden, mit 0:4 wurden die Zebras von der Spitze gefegt und kamen nie wieder.

Am Ende landeten sie auf Platz 9 – aber so eine Geschichte hat kein Verein mehr erzählen können.

  • Fun Fact 1: Im Jahr darauf investierte der MSV Duisburg so viel wie nie (sechs Millionen DM), startete aber schlecht wie nie und feuerte Lienen im Herbst. Trotzdem Abstieg.
  • Fun Fact 2: Am Wochenende der Tabellenführung lud das Sportstudio Verteidiger Joachim Hopp ein. Der traf an der ZDF-Torwand viermal – genauso oft wie in 83 Bundesligaspielen.