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Möller und die Schutzschwalbe

Ein Strafstoß rüttelte die Republik 1995 durch. Andreas Möller und sein Elfer-Betrug gegen den KSC: Der Skandal entschied die Meisterschaft

Der KSC will's nicht wahrhaben: Andy Möller bekommt seinen Strafstoß. Foto: Imago / Sven Simon
Der KSC will's nicht wahrhaben: Andy Möller bekommt seinen Strafstoß. Foto: Imago / Sven Simon

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Wer im Strafraum allzu leicht und gern fällt, handelt sich schnell ein Image als Schwalbenkönig ein. Die Weltmeister Bernd Hölzenbein und Jürgen Klinsmann mussten damit leben. Aktuell ist Borussia Dortmunds Sturmtalent Karim Adeyemi in der Schublade, Elfmeter zu schinden. Dabei sind die Fälle nicht immer so eindeutig wie vor fast genau 29 Jahren, als ein anderer Dortmunder Spieler Geschichte schrieb. Die dreiste „Möller-Schwalbe“ landete als erste ihrer Art sogar vor dem Sportgericht. Hinein in die Osterwoche 1995.

Fußball am Donnerstag ist vor 30 Jahren noch völlig unüblich, doch der Tag, an dem diese Geschichte spielt, ist kein Werktag. Der 26. Spieltag 1994/95 wird an Ostern ausgetragen, und da an Karfreitag nicht gespielt wird und die Fernsehverträge eingehalten werden müssen, eben schon am Gründonnerstag gekickt. Eine von drei Partien steigt im Westfalenstadion, wo der Überraschungstabellenführer Borussia Dortmund auf den Tabellensiebten trifft: auf den Karlsruher SC.

Der BVB meldet ein ausverkauftes Haus, was damals bedeutet: 42.800 Zuschauer. Sie werden in der zweiten Spielhälfte Zeugen einer Uraufführung in der Bundesliga, die sich tagelang in den Schlagzeilen hält. Andreas "Andy" Möller hat sie die Osterfeiertage jedenfalls gehörig verdorben. Aber das Mitleid hält sich in Grenzen, denn das faule Ei hat er sich selbst ins Nest gelegt.

Tatort Westfalenstadion - was also passiert am 13. April 1995?

Die Borussia läuft seit der 41. Minute einem Rückstand hinterher, die Fans beginnen zu murren.

Da dringt Nationalspieler Möller, als Ersatzspieler Weltmeister von 1990 und seit Saisonbeginn zum zweiten Mal bei Borussia, in der 75. Minute nach Doppelpass mit Lars Ricken von rechts in den Strafraum ein.

KSC-Verteidiger Dirk Schuster stellt sich ihm entgegen, hält aber Sicherheitsabstand. Er weiß, dass er nicht so schnell wie Möller ist. Wenn er dann zu spät käme, gäbe es Elfmeter. Bloß: den gibt es  trotzdem.

Bevor Schuster sein Bein ausfahren kann, macht Möller einen spektakulären Satz nach vorne und lässt sich fallen. Dafür wird er später den Begriff der „Schutzschwalbe“ erfinden.

Der geschockte Schuster erzählt den Reportern, was er in diesem Moment gedacht hat: "Soll das ein Kopfsprung vom Drei-Meter-Brett sein?" Für Schiedsrichter Günther Habermann ist der Fall klar, auch wenn er keine freie Sicht hat.

Er erkennt auf Foul: „Ich habe gepfiffen, also ist es Elfmeter!“ Möller grinst sich derweil eins und Sat.1-Kommentator Werner Hansch brüllt ins Mikrofon: "Und sehen Sie diesen Blick?"

Hätte es 1995 schon den VAR gegeben, wäre der Fall in fünf Sekunden geklärt und der Betrug offenbart worden – denn einen klareren hat es nie gegeben. So aber kommt es zu einer skandalösen Fehlentscheidung, die den Ausgang der Meisterschaft beeinflussen wird. "Geboren war in diesem Moment die gemeinste Schwalbe, die die Bundesliga je gesehen hat", schreibt die Sport Bild.

Die Reaktionen reichen von Entsetzen bis ungläubiger Heiterkeit. Die Karlsruher sind natürlich entrüstet, Trainer Winfried Schäfer applaudiert höhnisch. Möller rechtfertigt sich gestenreich gegenüber Schuster, der ihn anklagend vor die Brust schubst. BVB-Kapitän Michael Zorc lässt sich nicht beirren und verwandelt zum 1:1. Matthias Sammer sorgt noch für den Sieg.

Zwei Punkte, ohne die der BVB nicht Meister geworden wäre.

Interessanter für alle Beobachter ist indes das Nachspiel. Das, was in den Minuten, Stunden und Tagen nach Abpfiff gesagt und getan wird.

Dem ersten Mikrofon, das eines Field Reporters, weicht Möller noch im Vollsprint aus, aber er weiß, dass er so leicht nicht davon kommen wird. Und dass sich ein Geständnis für gewöhnlich strafmildernd auswirken dürfte.

So stellt er sich nach der Dusche den Medien. In „ran“, der Sendung von Sat.1, das damals die Erstverwertungsrechte an der Bundesliga hat, sagt er: "Das macht man instinktiv. Gut, ich hätte das Tor machen können. Aber es ist nun mal so gekommen. Es war sicher kein Elfmeter. Ich bin in dieser Saison schon so oft im Strafraum gefoult worden, ohne dass es einen Elfmeter gab. Diesmal hat der Schiedsrichter gepfiffen."

Es wird noch schlimmer. An anderer Stelle sagt Möller: "Das war eine Schutzschwalbe. Das macht man instinktiv. Es war sicher kein Elfmeter." Schusters schlagfertiger Konter: "Als Schwalbe würde ich es mir verbitten, mit Möller verglichen zu werden!"

Auf der Pressekonferenz zieht Winfried Schäfer so heftig über Möller her, dass BVB-Vize Ernst Breer ihn bitten muss, "das Gastrecht nicht zu missbrauchen". Doch der impulsive KSC-Trainer ist kaum zu bremsen. Am Sat.1-Mikrofon fordert er: "Zeigt diese Szene jeden Tag, damit der Fußball wieder sauber wird."

Angesprochen auf die Aussage von Schäfer, er habe als Vorbild für die Jugend versagt, schießt Möller zurück und noch ein Eigentor: "Der Trainer von Karlsruhe, Herr Schäfer, attackiert mich Jahr für Jahr und haut mir durch seine Presseleute eins drüber. Bei jedem anderen wäre ich vielleicht zum Schiedsrichter gegangen und hätte es zugeben, bei Herrn Schäfer tue ich das nicht."

Schäfer hat immer mal Partei für seinen Spieler Thomas Häßler genommen, denn die Frage, ob Möller oder Häßler besser für die Nationalelf sei, polarisiert beinahe genauso wie zwei Jahrzehnte zuvor als es hieß "Netzer oder Overath?".

Das Fazit der medialen Selbstrechtfertigung: Möller hat sich das Elfmetergeschenk über die Saison hin erarbeitet, und mit dem KSC und seinem Trainer trifft das Unrecht die Richtigen.

Ligaausschuss-Chef Gerhard Mayer-Vorfelder zetert: "Solche Fehlleistungen können ja vorkommen. Aber besonders schlimm ist es doch, wenn sich der Spieler damit hinterher groß produziert."

Es ist eben noch nicht die Zeit, in der Kommunikationsdirektoren die Spieler auf Interviews vorbereiten oder gar einschreiten, sollten sie aus dem Ruder laufen und so stehen neben der unsportlichen Tat auch die unsportlichen Worte eines unreifen jungen Mannes tagelang im Raum.

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Und diese Tage werden ungemütlich: In der Nacht auf Karfreitag findet Möller nicht in den Schlaf, das Gewissen plagt ihn. Erst recht, als auch sein Trainer beklagt: "So wollen wir unsere Siege nicht erzielen." Ottmar Hitzfeld fordert seine Mannschaft sogar auf, künftig "auf Schwalben zu verzichten".

An Ostersamstag, an dem Bild ihn als "größten Fußballbetrüger" abgestempelt hat und fordert, er gehöre "sofort gesperrt", sitzt Möller mit BVB-Manager Michael Meier im Sat.1-Studio und versucht zu retten, was längst verloren ist: seine Ehre, seine Glaubwürdigkeit, an der schon wegen früherer Lügen bezüglich Vereinswechseln gewisse Zweifel bestanden.

Nun also sagt er vor einem Millionenpublikum: "Ich mache das nie wieder. Ich versuche, ehrlichen Fußball zu spielen. Das war ein Ausrutscher. Es tut mir leid, vor allem für den Schiedsrichter. Bei ihm habe ich mich entschuldigt." Habermann hat in der Tat einen Anruf erhalten.

Auch die Attacken gegen Schäfer bedauert er nach "zweimaligem Überschlafen", er würde das nun "nicht mehr so rüberbringen und sachlicher antworten".

Damit ist der Fall der Schutzschwalbe längst nicht abgeschlossen, er landet vor dem Sportgericht. Der DFB übergeht wie schon beim Helmer-Tor ein Jahr zuvor die Unantastbarkeit der Tatsachenentscheidung wegen unsportlichen Verhaltens, "weil es nie mehr einen Fall geben wird, wenn Möllers Betrug kein Fall für die Anklage ist", so Chefankläger Horst Hilpert.

So sitzt Möller am 20. April ab 15 Uhr in Frankfurt vor seinen Richtern. Michael Meier plädiert auf Freispruch, weil Schwalben bisher nie geahndet wurden. Doch einmal ist immer das erste Mal, Möllers Betrug schreibt Fußballgeschichte. Als erster Profi wird er für eine Schwalbe gesperrt – für zwei Spiele, zusätzlich muss er 10.000 DM Strafe bezahlen.

Bundestrainer Berti Vogts nominiert ihn nicht für das Spiel gegen Wales, vorgeblich aus Rücksicht auf Möller. Dessen Unrechtsbewusstsein hält sich mittlerweile wieder in Grenzen, er geht in die Berufung: "An mir wurde ein Exempel statuiert." Das Urteil aber bleibt bestehen. Noch 1996 nennt er es "das größte Eigentor des DFB-Schiedsgerichts".

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  • Fun Fact: Beim ersten Wiedersehen mit Möller flog der Karlsruher Dirk Schuster beim 1:4 in Dortmund sieben Monate später schon nach 35 Minuten vom Platz. Der Schiedsrichter hatte ihn mit Michael Tarnat verwechselt.

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