Kiss Kiss Goodbye, Señor Rubiales!
Die Fifa eröffnet jetzt endlich ein Verfahren gegen den spanischen Verbandspräsidenten, der ungefragt eine Spielerin auf den Mund küsste
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Eigentlich macht man keine Witze über ganz besonders wichtige Themen, also wenn es zum Beispiel um Leben und Tod geht; sowas lernt man als Journalist früh. Wenn das aber wirklich eine unumstößliche Regel sein sollte, die für jedes Ressort gilt, dürfte keine meiner Kolumnen je erschienen sein. „Es gibt Leute, die denken, Fußball sei eine Frage von Leben und Tod“, hat nämlich Bill Shankly, die schottische Legende beim FC Liverpool, gesagt. „Ich kann Ihnen versichern, dass es noch sehr viel ernster ist.“
Ihr seht, ich hole heute ein bisschen aus, um mich thematisch abzusichern. Heute geht es zwar nicht um Leben und Tod (HSV-Fans können also aufatmen und weiter ihr 31-teiliges Restprogramm studieren), aber um ein fast genauso heikles Thema: Frauen und das Geküsstwerden.
Wie wir alle mitbekommen haben, fand kürzlich eine große Veranstaltung in Neuseeland und Australien statt, die irrtümlich als Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen bezeichnet wurde, bei der jedoch in Wirklichkeit nur ausgespielt wurde, welche Spielerin vom spanischen Verbandspräsidenten Luis Rubiales einen Kuss auf den Mund gedrückt bekommt.
Normalerweise kriegen ja am Ende so eines Turniers die Gewinner etwas Tolles, in diesem Fall war das anders, frag nach bei Lippenspeichelempfängerin Jennifer Hermoso. Nun redet seither die Welt über nichts anderes mehr als diesen aufgezwungenen Kuss. Kein Mensch erinnert sich noch, wie das Endspiel genau ausging, selbst ich nicht.
Ein einzelner Mann hat es mit einer einzigen Handlung geschafft, eine ganze Fußballbewegung zum Stillstand zu bringen, besser kann man den Begriff „Patriarchat“ eigentlich nicht zusammenfassen.
Nun werden Rücktrittsforderungen lauter und lauter, während Alte-Männer-Gewerkschaften ihren nicht enden wollenden letzten Kampf kämpfen und in diesem Fall einem armen alten Mann beistehen und „Man wird doch wohl noch … dürfen“-Sätze formulieren, wie das stets passiert, wenn geltendes Recht infrage gestellt wird, weil sich angeblich die Welt weiterdreht. Was man immer durfte, muss man immer weiter dürfen, lautet ihre Logik. Wie sich die Frauen dabei fühlen, ist halt Kollateralschaden.
Der Anführer Kalle „The Unwoke“ Rummenigge bezweifelte jedenfalls, ob es überhaupt der Rede wert sei, dass ein Mann einer Frau einen Kuss auf den Mund gibt und sich dabei sogar an ihrem Gesicht festhält, also auch dann, wenn die das gar nicht wollte, sei das doch vollkommen „absolut okay“, und ein bisschen schwang da in meinen Ohren mit: Soll die Olle doch froh sein, dass der Mann seine Zunge für sich behalten hat.
Rummenigge sagte das übrigens am Montagabend beim Sport-Bild-Award, den ich selbst ebenfalls besuchte. Im Nachhinein bin ich ganz happy, dass ich ihm nur einmal kurz begegnet war und ungeküsst blieb.
Natürlich sagen jetzt manche, Küssen gehöre zum Fußball halt dazu, also egal, wer wen küsst. Es gibt ein ikonisches Foto, auf dem zu sehen ist, wie Manchester Uniteds Kapitän Gary Neville seinen Mitspieler Paul Scholes voll auf den Mund küsst, weil der gerade das entscheidende Tor im Derby gegen ManCity geschossen hat, aber so etwas ist weniger als gar nicht die Regel, und die Beiden waren zumindest Kollegen und etwa gleichalt und trafen sich bisweilen nackt unter der Dusche, also war nicht einer der mögliche, geil sabbernde Großvater des anderen.
Ich würde jedenfalls nie auf den Gedanken kommen, jemanden unangemeldet zu küssen, schon gar nicht den Mund, und zwar geschlechterunabhängig. Ich bin habe auch noch nie in der Redaktion das Gesicht einer blutjungen Kollegin in die Hand genommen und ihre Lippen mit meinen vermählt, nur weil sie einen tollen Text geschrieben oder einen Journalistenpreis gewonnen hatte.
Ich finde, es lohnt sich für die Ewiggestrigen immer, bei solchen „modernen“ Themen mal kurz zu überlegen, warum sich so viele darüber aufregen, und dass das ja einen guten Grund haben könnte, und der Grund nicht der ist, dass alle außer einem selbst und der Peer Group total bescheuert sind, sondern dass die Welt sich verändert.
Ihr seht, ich könnte mich jetzt stundenlang mit dem Thema beschäftigen und es von allen Seiten beleuchten, aber eigentlich ist auch alles ganz leicht in einem Satz zusammenzufassen: Ein Mann küsst keine Frau ohne deren Einverständnis, so einfach ist das.
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