Lasst die EM nie zu Ende gehen!
Bei diesem großartigen Turnier hat eigentlich keine Nation das Aus verdient – trotzdem müssen acht Teams heimfahren. Ein Jammer
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Der härteste Teil dieser EM beginnt jetzt, und für mich bedeutet das eine Gefühlspremiere. Früher fand ich Gruppenphasen langweilig. „Wird Zeit, dass die Loser-Truppen rausfliegen und das Turnier endlich richtig anfängt“, sagte ich immer. Diesmal ist alles anders.
Die Welle der Begeisterung hat auch mich voll erfasst. Es geht bei dieser EM nicht mehr allein ums Weiterkommen, sondern um die Freude. Ganz im Sinne von Beethovens Ode an dieselbe mit Schiller-Text: „Alle Menschen werden Brüder“ (sorry, damals wurde nicht gegendert). Freude an schönem Fußball, an Stimmung auf einem völlig neuen Niveau, an Trikottapeten auf den Tribünen, wie ich sie noch nie gesehen habe.
Es gibt keine Mannschaft, die ich in den letzten Tagen nicht aus dem einen oder anderen Grund in mein Herz geschlossen habe. Am liebsten wäre mir, sie kämen alle weiter, und wir spielten die größte Knock-out-Runde aller Zeiten.
Aber bis jetzt hat es bereits zwei erwischt: Die armen Schotten, die so aufopferungsvoll kämpften und scheinbar mehr Fans mit nach Deutschland brachten, als sie Einwohner haben. Sie sangen, als stünden sie im Endspiel. Sie kämpften bis zum Umfallen. Das Schlimme daran: Sie fielen am Ende wirklich um.
Und Polen, das es nur in zwei Zuständen gibt: mit Robert Lewandowski oder ohne. Ausgerechnet in Berlin, der westlichsten Hauptstadt ihres Landes, ereilte die Polen das schlimmste EM-Schicksal, sie flogen raus. Tränen flossen.
Heute geht es weiter mit dem Ausscheidleid. Ich wage den Gedanken kaum, aber Kroatien und Albanien könnten morgen schon zu Hause ankommen (falls sie sich nicht für die Deutsche Bahn entscheiden). Ich kann mich einfach nicht durchringen, einer der beiden Nationen das EM-Aus zu wünschen.
Den Kroaten nicht, weil ihre Fans so unfassbar schön mitleiden und -feiern und ich ihre Badekappen liebe. Weil wir Luka Modric womöglich auf diesem Level nie mehr erleben. Der Mann hat jetzt schon bloß Luft für 30 Minuten, er ist bei der nächsten WM 40 Jahre alt und wird dann vermutlich aussehen wie 75.
Den Albanern wünsche ich den Durchmarsch mehr als allen anderen. Wie kann Albanien überhaupt so weit gekommen sein? Wie großartig haben Spieler und Fans auf dem Platz und auf den Tribünen gekämpft? Wie laut kann man seine Hymne singen? Wenn es Gerechtigkeit auf Erden gibt, zieht Albanien ins Achtelfinale ein. Und Italien scheidet aus? Auch undenkbar eigentlich.
Georgien, Ukraine? Niemand darf denen ernsthaft das Gruppen-Aus wünschen.
Ich könnte lange so weiterschreiben, denn fast alle Gäste traten bei dieser EM bisher wie solche auf, so sympathisch, gutgelaunt und feiernd, und sie brachten alle Geschenke mit: sich selbst.
Sauer aufgestoßen ist mir bisher nur das elende Hymnenausgepfeife der Serben und Türken. Die Türken aber taten das im zweiten Spiel nicht mehr, und ihre Fans sind sowieso eine Klasse für sich. Laut bis zur Schmerzgrenze. Er habe das Gefühl, sagte der ZDF-Reporter während des Portugal-Spiels, sein Tisch stehe direkt neben einer Landebahn.
Die Türken sorgten dafür, dass die Dortmunder plötzlich dachten: Schon komisch, war nie aufgefallen, wie leise es bei BVB-Heimspielen ist.
Ja, dieses Turnier hat’s mir angetan. Es ist das schönste, stimmungsvollste, beste, das ich je verfolgt habe – und ich gucke seit ’74. Lasst die EM nie zu Ende gehen!
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