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Erdogan und sein Özil

Wenn Deutschland gegen die Türkei spielt, liegt immer Brisanz in diesem Duell. Erst recht seit der Sommer-Affäre vor der WM 2018.

Foto: Imago / Depo Photos

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So manche große Länderspielkarriere endete unrühmlich. Lothar Matthäus ging nach einem blamablen Vorrunden-Aus bei der EM 2000, Oliver Kahn als bedauerter Reservist beim Sommermärchen 2006 und Berti Vogts als Eigentorschütze bei der Schmach von Cordoba.

Beendet hatten sie ihre Karrieren aber in der Regel selbst oder durch ein Wort des Bundestrainers. Nur einmal in der DFB-Geschichte beendete ein ausländischer Staatschef eine große Karriere - und auch das war alles andere als ein rühmliches Kapitel deutscher Fußballgeschichte.

Der Sommer 2018. Mit an Arroganz grenzender Zuversicht blickt der amtierende Weltmeister Deutschland auf das Unternehmen Titelverteidigung. Trotz zweier schwacher Testspiele kurz vor dem Abflug (1:2 gegen Österreich und 2:1 gegen Saudi-Arabien) und schon traditioneller Personalsorgen hielt die DFB-Equipe an ihrem Ziel fest: "Wir besitzen so viel Hingabe, um den Titel wieder zu holen", beteuerte Bundestrainer Joachim Löw vor dem Abflug nach Moskau.

Natürlich, sie waren ja nicht nur Weltmeister, sondern auch Weltranglistenerster, und sogar der zweite Anzug hatte noch im Vorjahr den Confed-Cup gewonnen. Da muss man wohl oder übel mit der Favoritenrolle leben.

Dass der Titelverteidiger in Gruppe F gelost wurde, sahen Optimisten als Hinweis auf den Finaleinzug ein. Doch dann kam alles anders und das F, so stellte sich heraus, stand für Flop, Fehlschlag, Frust.

Deutschland erlebte 2018 einen Sommer wie keinen zuvor – in der Heimat trocknete die Dürre die Flüsse aus, und Rekordtemperaturen brachten die Menschen um den Schlaf. Eine solche Hitze hatte noch niemand erlebt. Fast noch schlimmer aber war, dass die Nationalelf erstmals in 64 Jahren in der Vorrunde einer WM ausschied. Die Skeptiker sahen sich plötzlich bestätigt.

Dunkle Vorzeichen, die mancher übersehen wollte, hatten sich ergeben. Die dunkelste Wolke schwebte seit dem 13. Mai über dem DFB-Lager. An jenem Tag begann sie, die Erdogan-Affäre. Sie war der Anfang vom Ende des Nationalspielers Mesut Özil, Weltmeister von 2014 und fast ein Jahrzehnt lang ein Lieblingsspieler von Joachim Löw.

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan war in jenem Mai auf Staatsbesuch und Wahlkampftournee in England, wo mit Mesut Özil und Ilkay Gündogan zwei türkischstämmige deutsche Nationalspieler ihr Geld verdienten. Gündogan bei Manchester City, Özil bei Arsenal in London.

Auf einem Charity-Dinner im Londoner Hotel „Four Seasons“ werden die Spieler und Erdogan für ein Foto zusammengeführt. Auch der türkische Nationalspieler Cenk Tosun ist dabei. Sie nehmen den Präsidenten in die Mitte und lächeln in die Kamera, Gündogan überreicht Erdogan noch ein Trikot von ManCity mit der Widmung "Für meinen verehrten Präsidenten. Hochachtungsvoll".

Gündogan hat im Gegensatz zu Özil die doppelte Staatsbürgerschaft, von daher ist die Anrede noch erklärbar. Aber Verehrung für einen Autokraten, der die Meinungsfreiheit und Oppositionelle unterdrückt und in jenen Tagen den deutschen Journalisten Deniz Yücel inhaftiert hat? Es dauert nicht lange, bis das Foto öffentlich wird. In Deutschland schlagen die Wellen der Empörung hoch, einen Tag vor Nominierung des WM-Kaders titelt Bild: "Für Deutschland spielen, für Erdogan kämpfen".

Der damalige DFB-Präsident Reinhard Grindel stellt fest: "Der Fußball und der DFB stehen für Werte, die von Herrn Erdogan nicht hinreichend beachtet werden." Die Spieler hätten sich für ein Wahlkampfmanöver missbrauchen lassen, "der Integrationsarbeit des DFB haben unsere beiden Spieler mit dieser Aktion sicher nicht geholfen."

DFB-Vize Rainer Koch hätte sich gewünscht, dass die Spieler ausgedrückt hätten, "dass der deutsche Staatspräsident mindestens auch 'Mein Präsident' ist".

Teammanager Oliver Bierhoff beteuert, die Spieler seien "sich der Symbolik und Bedeutung dieses Fotos nicht bewusst" gewesen.

Zwei dumme Fußballer also, die nur von Eckfahne zu Eckfahne denken können? So einfach kommen sie nicht davon, schon gar nicht der Einser-Abiturient Gündogan. Die Debatte verlagert sich schnell vom Fußballplatz auf die politische Bühne. Haben wir hier ein Musterbeispiel für gescheiterte Integration, sind das nicht dieselben, die auch nie die Hymne singen?

Ein Tagesschausprecher twittert: "Alles, was in Sachen Integration schieflaufen kann, in einem Bild."

Gündogan rudert sofort zurück, zeitgemäß in den sozialen Netzwerken, aber immerhin: "Es war nicht unsere Absicht, mit diesem Bild ein politisches Statement abzugeben, geschweige denn Wahlkampf zu machen."

Und Özil? Der schweigt. Das kann er gut und ausdauernd. Die Angeklagten steuern fortan unterschiedliche Wege, mit der Affäre umzugehen.

Der eloquente Gündogan gibt immer wieder Interviews und konzediert: "Ich verstehe, dass man die Aktion nicht gut finden muss." Özil schweigt weiter.

Auf Gündogans Anstoß hin besuchen die beiden in ihrem Urlaub am 19. Mai Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf Schloß Bellevue. Ob sie sich entschuldigt hätten? Das sei "Interpretationssache", wird Steinmeier drei Wochen später sagen. Das Wichtigste aber: Auch jetzt gibt es ein Foto, das die Öffentlichkeit beruhigen soll. Ebenso wie die wohlfeilen Statements.

Steinmeier belehrte sie: "Heimat gibt es auch im Plural."

Nun spricht sogar Özil: "Ich bin hier aufgewachsen und stehe zu meinem Land." Und Gündogan betont: "Meine Familie stammt aus Dursunbey. Ich bin in Gelsenkirchen geboren. So wie die Heimat meiner Eltern auch ein Stück Heimat für mich ist, so ist Deutschland heute eindeutig mein Land und mein Team." Steinmeier beschließt die Showveranstaltung präsidial: "Und mit Deutschland werden Sie Weltmeister!"

Das sollte ebenso scheitern wie der Versuch, die Debatte zu beenden, so sehr auch Bierhoff einmal vor der Presse der Kragen platzt: "Nun muss es auch mal genug sein." Es kommen immer wieder Nachfragen, und wer keine Antworten gibt, muss damit leben. Als der DFB am 5. Juni seinen offiziellen Medientag im Trainingslager in Eppan/Südtirol veranstaltet, stellen sich 22 der 23 Spieler zum Einzelinterview. Nur einer fehlt – Mesut Özil. Ausgepfiffen werden beide in den Testspielen vor der WM, Gündogan weint in der Kabine. Die Reporter hören sich in der Mannschaft um und erfahren, dass es ein Brodelthema bleibt.

Thomas Müller: "Die beiden haben im Kreise der Mannschaft unsere Fragen beantwortet. Ich kann nachvollziehen, dass es Menschen gibt, die das Treffen nicht gut fanden."

Sami Khedira, ein Mann mit tunesischen Wurzeln, vielsagend: "Sie wissen schon, was sie gemacht haben und wie sie damit umzugehen haben."

Rückendeckung hört sich anders an.

Selten ist eine deutsche Mannschaft in angespannterer Stimmung zu einer WM gereist. Besonders Özil, der keine Einsicht zeigt, erzürnt die Gemüter. Die Bild am Sonntag kommentiert: "Es wäre schön, wenn auch Özil sich endlich zu seinem Fehler bekennen würde – und zu dem Land, dessen Farben er trägt. Wir im Gegenzug sollten lernen, auch mal zu vergeben." Die Reihen müssen doch geschlossen werden vor dem Unternehmen Titelverteidigung, das seit Jahrzehnten ein zunehmend aussichtsloses im Weltfußball ist.

Am 10. Juni schaltet sich Kanzlerin Angela Merkel in diesem Sinne ein und sagt bei Anne Will: "Ich finde, wir brauchen die jetzt alle, damit wir gut abschneiden und deshalb würde ich mich freuen, wenn mancher Fan auch klatschen könnte."

Jogi Löw braucht zunächst nur Özil, der im ersten Spiel gegen Mexiko vor dem entscheidenden 0:1 "den Zweikampf verweigert", wie die Frankfurter Rundschau schreibt. Löw reagiert und nimmt seinen Liebling, den er seit 2010 in 26 Turnierspielen immer von Anfang an nominiert hat, raus. Gegen Schweden spielt nur Gündogan, der als Joker einen kleinen Anteil am 2:1-Sieg hat.

Gegen Südkorea, als nur ein Sieg hilft, kommt Özil wieder zum Einsatz – sein 92. wird sein letzter. Weil Deutschland 0:2 verliert und auch den Platz in Özils Herzen eingebüßt hat. Erst recht, als er am 5. Juli in der Welt lesen muss, dass Bierhoff meint, es wäre eine Überlegung wert gewesen, auf Özil zu verzichten. Drei Tage später fordert Grindel Özil auf, endlich Stellung zu beziehen, die Fans hätten ein Recht auf Antworten.

Am 22. Juli bekommen sie eine Antwort. Und was für eine. Özil rechnet ab. Eine Philippika in drei Kapiteln, auf Twitter. Wie um die Distanz zu dokumentieren, auf Englisch. Er beklagt Rassismus, greift Medien, Sponsoren, Fans und den DFB an und besonders Grindel: "Ich werde nicht länger als Sündenbock dienen für seine Inkompetenz und seine Unfähigkeit, seinen Job zu erledigen."

Das Treffen mit Erdogan habe er aus Respekt gegenüber dem Land einer Vorfahren nicht ablehnen können und außerdem mit Erdogan nur über Fußball geplauscht. Rhetorisch fragt er oder, vielmehr, sein Beraterstab: "Gibt es Kriterien, ein vollwertiger Deutscher zu sein, die ich nicht erfülle?" Die Antwort ist ihm nun auch egal, er tritt zurück. Ohne ein persönliches Wort an Jogi Löw; erst Jahre später sprechen sie sich aus.

Löw versucht ihn im Sommer 2018 zu erreichen, "per Telefon, per SMS, aber es ist mir nicht gelungen." Man spürt, dass ihm das nahe geht, als er am 29. August seine reichlich späte WM-Bilanz zieht – und im Amt bleibt. Damals haben die Deutschen gedacht, das WM-Aus sei ein Betriebsunfall gewesen, doch es war nur das erste von nunmehr drei verkorksten Turnieren. Dafür kann man Recep Erdogan nicht die Schuld geben, das wäre dann doch zu viel der Ehre. Aber es war ein Mosaikstein, der ganz schön fies drückte im deutschen Fußballschuh. Löw gab zu, als alles längst zu spät war: "Dieses Thema hat Kraft gekostet und war nervenaufreibend, weil es immer wieder da war. Wir haben die Situation mit den Fotos absolut unterschätzt."

  • Fun fact 1: Bei Özils Hochzeit am 6. Juli 2019 ist Erdogan sein Trauzeuge.
  • Fun fact 2: Gündogan ist mittlerweile Kapitän der deutschen Nationalmannschaft.

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