„Ich bin Ich“ statt „Mia san Mia“
Das Debakel in Leverkusen und die Folgen: Warum sich der Bayern-Trainer jetzt hinterfragen muss
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Die Bayern haben am Samstag auf mich gewirkt wie Unsterbliche, die gar nicht glauben können, dass drei Pfeile in ihrem Bauch stecken und die Atemnot einsetzt. Das 0:3 in Leverkusen hatte den Sound von: Ende einer elfjährigen Ära der Unsterblichkeit, zusammengefasst in 90 Minuten.
Ich hatte zwar vorher selbst auf einen Heimsieg im Spitzenspiel getippt, aber auf ein eher hart umkämpftes 3:2 für Bayer. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm werden könnte. Mit solchen Ausfallerscheinungen beim Rekordmeister. Dass wie vor dem 1:0 ein Ball durch den Bayernstrafraum kullern würde wie über einen Spielplatz, während sich die Eltern fragen: Guck mal ein Ball, wem gehört der denn?
Vor allem hätte ich es nie für möglich gehalten, dass Thomas Tuchel diese Mannschaft dermaßen nicht in den Griff bekommen würde. Das muss man aber jetzt, nach dem Debakel in Leverkusen und einem Fünf-Punkte-Rückstand auf Team Alonso feststellen.
Thomas Müller versuchte sich in verklausulierter Selbstkritik: Im Training gelinge ja alles, komischerweise aber nicht in den Spielen. Wenn das, was im Training klappt, auf dem Platz schiefgeht, liegt der Fehler aber nicht unbedingt bei den Fußballern allein: sondern an den Rahmenbedingungen. Der passenden Taktik, der Ansprache vor dem Anpfiff und nach dem Abpfiff. Man nennt es auch: Führung.
Wenig davon gelingt Tuchel momentan, zumindest wirkt es so. Über seine seltsame Leverkusen-Taktik werden sich Experten noch in zwei Jahren die Köpfe zerbrechen, die Bayern-Profis waren gleich überfordert. Und warum rennt eigentlich ein frisch verpflichteter 30-Millionen-Rechtsverteidiger links? Wieso rücken Innenverteidiger nach außen? Wieso sitzt Joshua Kimmich auf der Bank, und ein Spieler kommt stattdessen zum Einsatz, dessen Schreibweise ich erst googeln muss?
Manchmal habe ich das Gefühl, Tuchel denkt, er sei größer als der Fußball. Fußball kann aber so einfach sein. Eine repräsentative Fanumfrage hätte am Samstag vermutlich eine schlagkräftigere Startelf ergeben als wochenlanges Tuchelgrübeln. Sogar der große Pep Guardiola hat irgendwann festgestellt, dass zu kompliziert zu schlecht ist. „Fußball ist keine Mathematik“, hat mal Kalle Rummenigge, der Chefempathiker des deutschen Fußballs, gesagt.
Vielleicht liegt es auch noch an etwas Anderem: Mir fällt immer wieder auf, wie wenig Tuchel eigentlich zu den Bayern passt. Wie distanziert er wirkt.
Die Bayern sind „Mia san Mia“, aber Tuchel ist „Ich bin Ich“.
Der Trainer verkörpert nicht die Grundtugenden des Vereins: gewinnen, ein bisschen arrogant sein, noch mal gewinnen, zwischendurch familiär menscheln, dann schnell wieder gewinnen.
Tuchel ist sarkastisch, ironisch, witzig, er wirkt oft kühl und ich-bezogen. Immer wirkt er: distanziert. Mich beschleicht das Gefühl: Wenn Tuchel morgen weg ist, hinterlässt er in München keine Lücke.
Ist er morgen weg? Ein schnelles „Nein“ aus dem Vorstand wie am Samstag ist im Fußballgeschäft ein eher schlechtes Zeichen.
Wie geht’s weiter? Normalerweise antworten die Bayern auf Krise mit Gemetzel. Am Mittwoch spielen sie in Rom, erstes Achtelfinale der Champions League. Das Kuriose an diesem Klub ist: Er zieht sich fast immer an den eigenen Haaren aus dem Sumpf. Mia san Mia halt.
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