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Als die Welt der Bayern unterging

Wer es erlebt hat, wird es nie vergessen: Wie der Rekordmeister gegen ManU einen sichergeglaubten Champions-League-Sieg in letzter Sekunde verlor

Foto: Imago / PanoramiC

Inhaltsverzeichnis

Vor einem Spiel gegen Manchester United sollte man ausreichend schlafen. Auch wenn es um nichts mehr geht als um die Ehre und Punktprämien, die Profis des FC Bayern kaum noch anstacheln dürften. Wenn es aber um etwas geht, sagen wir mal: um die Champions League, dann dürfen wir Professionalität voraussetzen. Also eigentlich. Dass ein Bayern-Spieler am 26. Mai 1999 bis nachts um halb drei an der Hotelbar saß und Weizenbier trank, um endlich müde zu werden, ist nur eine der unglaublichen Geschichte, die sich um dieses Finale rankt. Folgen Sie mir aufs Schlachtfeld von Barcelona, Bayern Münchens Waterloo. Denn wieder gewannen die Engländer …


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Was Bayern München vor bald 25 Jahren gegen Manchester United erlebte, ist den Aktiven bis heute unbegreiflich, und jeder, der es erlebte, wird es nicht vergessen. Denn es ist eine Geschichte, die  immer wieder erzählt werden muss, weil sie kaum zu glauben ist. Es ist die Geschichte einer Mannschaft, die in 102 Sekunden ein gewonnenes Spiel noch verlor und ihren größten Traum wegwarf – den Gewinn der Champions League.

Weil Sepp Herbergers Worte nicht mehr Gesetz waren und dieses Spiel, obwohl noch weit vor Einführung des VAR, nicht 90 Minuten dauerte – und deshalb ist es bis heute nicht zu Ende. Denn es lebt fort an den Stammtischen, auch den virtuellen, wann immer einer Mannschaft in den letzten Sekunden der Erfolg aus den Händen rinnt. Wobei keines mehr an dieses heranreichte. Und es lebt fort wann immer Bayern gegen Manchester United antritt.

1999 ist es ein Treffen der Giganten ihrer Länder. Beide sind schon Meister. Derart souverän die Bayern, dass die Feier am Marienplatz schon 18 Tage hinter ihnen liegt – und ein Pokalfinale noch vor ihnen. Der Traum vom Triple soll wahr werden im letzten Jahr des Jahrtausends, die Hitzfeld-Bayern wähnen sich reif dafür. ManU hat in England erst am Wochenende zuvor das Double gewonnen, nun will Coach Alex Ferguson auch das Triple. Schon zu Ehren seines legendären Vorgängers Matt Busby, der an diesem 26. Mai 90 Jahre geworden wäre. Wie geht es aus? Alles ist offen. In der Zwischenrunde, die es damals noch gibt, haben sie sich schon zweimal gemessen, es gab zwei Unentschieden.

Als der große Abend herangerückt ist, liegt knisternde Spannung über dem Stadion Camp Nou. 90.000 Menschen füllen die Ränge, Rekord für ein Champions-League-Finale. Es wird in 200 Länder live übertragen. Bayern-Präsident Franz Beckenbauer sitzt auf der Pressetribüne als nicht ganz unparteiischer Experte von RTL.

Beiden Teams fehlen zwei wichtige Spieler: Bayern vermisst Weltmeister Bixente Lizarazu und Giovane Elber, ManU Kapitän Roy Keane und Paul Scholes.

Beckenbauer hat die ganze Geschäftsstelle eingeladen zum größten Spiel seit 23 Jahren, als er selbst noch als Kapitän den Europapokal der Meister gewonnen hat. Boris Becker, der gerade abgetretene Tennis-Superstar, ist auch dabei. Er ist glühender Bayern-Fan.

Die Engländer bieten umgerechnet 230.000 Euro pro Kopf Siegprämie, Bayern nur knapp ein Drittel. Schon damals steckt in der Premier League mehr externes Investment als in der Bundesliga. Doch es geht nicht um Geld heute.

Wer an Omen glaubt, muss sich schon eher um die Bayern sorgen: schon am Vortag feiern die Briten einen Sieg. Eine Münze entscheidet, dass sie in Rot spielen, dabei wollen die Münchner doch ihre neuen Trikots präsentieren. So bleibt ihnen nur das silberblaue Trikot mit den weinroten Ärmeln.

Auch Mario Basler trägt es, und wer seine Biografie liest, muss sich ernstlich fragen: Warum nur zur Hölle? Basler, schon damals einer der letzten Typen des Fußballbetriebs, ist den kleinen Sünden des Alltags nicht abgeneigt, die man jedem harten Arbeiter gern zubilligt. Aber ein Leistungssportler, der raucht und säuft und nachts in Spielcasinos zockt? Der ob seines Lebenswandelns schon damals ehemalige Nationalspieler Basler hat so manche Geldstrafe zahlen müssen in seiner Karriere und Bayern-Manager Uli Hoeneß sogar dazu gebracht, ihm einen Detektiv auf den Hals zu hetzen.

Aber was immer der auch herausfindet, Trainer Ottmar Hitzfeld will auf den Mann mit dem rechten Zauberfuß nicht verzichten. Sein jüngstes Vergehen findet Hoeneß selbst raus, er ertappt ihn nachts um halb drei im Hotel rauchend mit einem Weißbier – nicht sein erstes. Hoeneß blafft ihn an: „Wenn Du jetzt nicht ins Bett geht, kannst Du morgen auch nicht spielen.“ Baslers Konter: „Dann können wir auch nicht gewinnen.“ Ob Hoeneß Hitzfeld davon erzählt hat? Wir wissen es nicht. Später sicher. Als die Partie angepfiffen wird, ist Basler aber dabei – und das ist auch gut so. 

Als Schiedsrichter Collina nach fünf Minuten einen Freistoß gibt, schnappt sich Basler den Ball. Kapitän Stefan Effenberg  gibt Basler den Tipp: „Torwartecke! Ich glaube, der macht einen Schritt in die Mitte!“ Peter Schmeichel macht einen Schritt in die Mitte, Basler schießt in die Torwartecke – und der eher lasche Flachschuss rauscht ins Netz. 1:0! Ein frühes Tor – Balsam für die Seelen der keineswegs abgezockten Bayern. Einige Spieler haben vor Nervosität ihr Frühstück nicht heruntergebracht, doch nun verfliegt sie endlich.

Dem Spiel tut das Tor jedoch entgegen allen Fußball-Weisheiten nicht gut. Man wird hinterher von einem enttäuschenden Finale sprechen, vom Epilog einmal abgesehen.

Den Engländern fällt nicht viel ein,  Torwart Oliver Kahn wird es in seinem 50. Europapokalspiel schon beinahe langweilig. Mit 1:0 geht es in die Kabinen. Alle 22 kommen wieder heraus und erst als sich die Besetzung auf dem Rasen ändert, wird es ein Drama.

Eben noch hat Basler voller Übermut aus 35 Metern geschossen und Schmeichel in Verlegenheit gebracht. Manchester droht nicht nur geschlagen, sondern auch verhöhnt zu werden. Es kommt die 67. Minute: Ferguson reagiert, er bringt Teddy Sheringham, der mit einem Tor das FA-Cup-Finale gegen Newcastle entschieden hat. Er ist 33 Jahre, aber Ferguson weiß: Alter schützt vor Toren nicht.

Vor Müdigkeit aber auch nicht. Die Kameras zeigen immer wieder das verzerrte Gesicht von Bayern-Libero Lothar Matthäus (38). Er kann nicht mehr. Lässt die Schultern hängen als Signal für den Wunsch nach Auswechslung,  „weil ich fast nur im Mittelfeld gespielt hatte, und weil es verdammt heiß war in Barcelona“.

Hitzfeld schickt in der 80. Minute für den einstigen Weltfußballer des Jahres den soliden Kicker Thorsten Fink aufs Feld, in dessen Vita Klubs wie Wattenscheid 09 und Karlsruher SC stehen.

Später wird man diesen Wechsel als fatales Signal geißeln und Hitzfeld zugeben: „Die Auswechslung von Lothar hat uns nicht unbedingt sicherer gemacht.“ Mediendirektor Markus Hörwick sagt noch viel später, als er so etwas sagen durfte: „Das war für die Mannschaft das Zeichen, dass das Spiel gelaufen war. Ein Fehler. Und wenn er auf dem Platz gestorben wäre, er hätte drauf bleiben müssen.“

In diesem Moment hat Hörwick weniger Zweifel. Er bespricht schon mit den Fieldreportern, welche Spieler gleich vor den Mikrofonen ihre Siegesfreude herauslassen sollen. Betreuer schleppen Champagner herbei und eine Kiste Mützen mit der Aufschrift: „Champions-League-Sieger 1999 – FC Bayern München.“ Mario Basler ist der erste, der eine trägt. Er wird in der 89. Minute ausgewechselt, damit der Kämpfer Hasan Salihamidzic noch teilhaben kann am Erfolg.

Ferguson hat ebenfalls noch mal gewechselt und mit Gunnar Solskjaer seinen zweiten Joker gebracht. Es wirkt sofort: Er und Sheringham haben in zehn Minuten mehr Chancen zusammen als die Kollegen in 90. Die größeren haben die Bayern, Mehmet Scholl hat den Pfosten und Carsten Jancker per Fallrückzieher die Latte getroffen. Die Bayern-Abwehr ohne Matthäus aber schwimmt immer mehr – und Collina lässt sie ersaufen.

Er erteilt drei Minuten Zugabe. Hitzfeld denkt: „Verdammt, das ist lang.“

Ein ungenauer Rückpass von Markus Babbel zwingt Thomas Linke dazu, den Ball ins Aus zu schlagen und nach dem Einwurf verursacht Stefan Effenberg einen Eckball. Die Spieluhr zeigt 90:16 Minuten an. Die englischen Fans springen auf wie nach einem Treffer. Ecken von Beckham sind Torchancen, das wissen sie. Auf der Bayern-Bank wird gezittert. Co-Trainer Michael Henke wird später zugeben: „Wir haben uns nie super sicher gefühlt, weil es bei den Standards von ManU immer gebrannt hat.“

Der Ball rauscht durch den Torraum, ausgerechnet Matthäus-Ersatz Fink befördert den Ball mit einem dilettantischen Querschläger hoch in die Gefahrenzone zurück – und Sheringham verlängert den Schuss von Ryan Giggs zum 1:1. Vergeblich reklamieren die Bayern auf Abseits. Matthäus steht wie versteinert am Spielfeldrand.  Beginnt er zu begreifen, was er angerichtet hat?

Das Schlimmste aber kommt noch. Die geschockten Bayern verlieren den Ball postwendend. Sammy Kuffour klärt gegen Solskjaer – erneut auf Kosten einer Ecke. Die Uhr zeigt 92:14 Minuten an.

Wieder tritt Beckham von links mit rechts, Sheringham gewinnt den Kopfball gegen Linke und verlängert auf Solskjaer, der drischt unter die Latte – 1:2! 

Die Bayern-Spieler fallen zu Boden, einige beginnen zu weinen. Es sind „die zwei unglaublichsten Minuten des Fußballs“, wird Englands Sun titeln. Collina will noch nicht abpfeifen und packt die Bayern auf Englisch bei der Ehre: „Stand up, when you are men.“ Sie stehen auf und sind doch am Boden zerstört.

Zwei Tore in 102 Sekunden Nachspielzeit machen Sieger zu Verlierern. Wer soll das verkraften? In den Fan-Blöcken brechen sich die Emotionen Bahn. Wunderkerzen hier, Tränen da. Auf der Pressetribüne bricht Hektik aus. Reporter telefonieren mit ihren Redaktionen, die bereits gesendeten Texte sind nicht mehr druckreif.

Den ganzen Irrwitz dieses dramatischen Epilogs von Barcelona verdeutlicht jedoch eine Aufzugfahrt in den Katakomben des Camp Nou. Um 22.30 Uhr besteigen drei VIPs den Aufzug, der von der Ehrentribüne ins Erdgeschoss führt. Lennart Johansson, der Uefa-Präsident, Franz Beckenbauer und Boris Becker müssen und wollen zur Siegerehrung. Das Spiel läuft noch. Becker erzählte das Jahre später noch immer fassungslos: „Als wir in den Aufzug stiegen, stand es 1:0 für Bayern. In der Aufzugkabine hörten wir Jubel. Wir dachten: Okay, der Abpfiff. Als wir kurze Zeit später durch die Katakomben in Richtung Rasen gingen, sahen wir die ManU- Spieler jubeln, die Bayern lagen am Boden. „Mist, doch der Ausgleich“, dachte ich noch. Kurz darauf blinkt es an der Anzeigetafel: 1:2! Wir haben uns angeguckt und konnten es nicht glauben.“

Aber wer konnte das schon? Marcel Reif stöhnt am RTL-Mikrofon nur: „Wissen Sie was, ich habe gar keine Lust, das hier zu analysieren.“ Ex-Nationalspieler Bernd Schuster, damals fürs spanische Fernsehen im Einsatz, sagte: „Ich habe schon viel Schreckliches erlebt im Fußball, aber etwas Schrecklicheres gibt es nicht mehr.“

Die Stunden danach fördern erste Risse im Bayern-Kosmos zu Tage. Mehmet Scholl gibt einem Fan außer einem Autogramm auch eine brisante Antwort auf die Frage nach der Auswechslung von Matthäus: „Der geht doch immer raus, wenn es eng wird. Das müsst ihr doch langsam wissen.“

Ein Journalist hat es mit angehört und setzt es in die Welt. Scholl zahlt dafür 10.000 D-Mark Strafe, ebenfalls Thomas Helmer, der seiner Enttäuschung über seine Nichtberücksichtigung mit abfälligen Gesten gen Hitzfeld Ausdruck gegeben hat.

Als das Stadion schon leer ist, sieht man Stefan Effenberg mit einem Glas Bier einsam über den Rasen laufen. Das Unfassbare zu fassen, gelingt ihm damit nicht.

Der Rest ist Frustsaufen im Hotel mit rund 1000 geladenen Gästen. Nachts um drei tanzen die Bayern-Spieler mit nackten Oberkörpern mit ihren Frauen auf den Tischen, es soll eine der besten Partys des Vereins gewesen sein. Morgens um halb sechs beschließt Matthäus im Gespräch mit Vereinskoch Alfons Schuhbeck, mal einen Kochkurs zu belegen.

Erst in diesem Zustand haben sie begriffen, dass es wohl doch nur ein Spiel ist. Als sie wieder nüchtern sind, schwört Effenberg: „Diesen Pokal hol ich mir noch!“ 2001 glückt es, damals in Mailand gegen den FC Valencia. Mario Basler ist nicht mehr dabei, fünf Monate nach dem Finale wird er entlassen, weil er wieder mal zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen ist. Das kann auch eine Pizzeria in Regensburg sein.

Fun fact 1: Auch das nächste und bis dato letzte Finale gegen eine englische Mannschaft verlieren die Bayern durch ein Eckballtor. Im Finale dahoam 2012 kommt Chelsea London in München kurz vor Schluss zum Ausgleich und gewinnt schließlich nach Elfmeterschießen.

Fun fact 2: Die Münchner Abendzeitung hat, eher der Bedeutung des Spiels, denn der Leistung angemessen, gewertet und allen Bayern-Spieler eine Eins gegeben. Die Noten werden in der Redaktion in Windeseile angepasst und nach unten korrigiert, die ausformulierten Kritiken (die der heutige Fever-Pit'ch-Kolumnist Alex Steudel damals im Camp Nou verfasst und in Minute 85 via Laptop und Steinzeithandy nach München abgeschickt hat) leider vergessen. Und so steht am nächsten Morgen neben so mancher Spieler-Lobeshymne eine glatte Fünf in der Zeitung.

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