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Als Lattek den BVB aufmischte

Er war 65, als er auf die Trainerbank zurückkehrte, und rettete Borussia Dortmund im Abstiegskampf. Ein teures Vergnügen

Udo Lattek mit Matthias Sammer. Foto: Imago / ExSpo
Udo Lattek mit Matthias Sammer. Foto: Imago / ExSpo

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Wenn in der Natur alles wieder zu leben beginnt, geht im Fußball für gewöhnlich alles zu Ende. Die Entscheidungen fallen im Mai oder Juni, manchmal auch schon im April. Dann greift mancherorts die Panik um sich, und Personen erscheinen auf der Bildfläche, denen Wunderkräfte nachgesagt werden. So jemand war der Fußballtrainer Udo Lattek, der zwar Zeit seines Lebens nur um Titel gespielt hatte, aber für Borussia Dortmund war er vor 24 Jahren genau der Richtige im auch für sie ungewohnten Abstiegskampf. Rückschau auf den 30. Spieltag der Saison 1999/2000 und das erstaunlichste Trainer-Comeback der Bundesliga.

Am Donnerstag, 13. April 2000, erschien eine Kolumne im Fachblatt Kicker. Geschrieben von Udo Lattek, dem damals wie heute mit acht Meisterschaften erfolgreichsten Trainer der Bundesligageschichte. Er schrieb über ein Thema, mit dem er zuletzt als Oberligaspieler von Bayer Leverkusen in der Saison 1955/56 zu tun hatte: Abstiegskampf.

Der Kampf um den Klassenerhalt war 2000 von besonderer Brisanz, war darin doch tatsächlich Borussia Dortmund verwickelt. Der BVB, als Champions League-Teilnehmer in die Saison gestartet, war nach der peinlichen 1:3-Heimpleite gegen Aufsteiger Unterhaching auf den 13. Platz abgerutscht. Nur ein Punkt trennte ihn fünf Spiele vor Schluss von einem Abstiegsplatz. Mit einer Mannschaft, in der es vor Millionären und Nationalspielern nur so wimmelte.

Der Vorstand hatte bereits im Februar die Reißleine gezogen und den glücklosen Nachfolger von Ottmar Hitzfeld, Michael Skibbe, auf Platz 6 (!) entlassen. Doch unter Bernd Krauss wurde es noch schlimmer, er gewann keines seiner elf Spiele. Beobachter Lattek also schrieb: "Was soll die Vereinsführung jetzt machen? Ganz ehrlich, ich wüsste nicht, was ich machen sollte! Fakt ist, dass der Trainerwechsel Bernd Krauss für Michael Skibbe wirkungslos verpufft ist. Ob jetzt ein erneuter Trainerwechsel etwas hilft? Eigentlich bin ich dagegen. Und es ist auch eine Frage der Alternativen? Wer ist auf dem Markt?" 

Wenn sich das ein Autor ausgedacht hätte, man hätte ihm das Manuskript mit dem Vermerk "zu kitschig" zurückgegeben, aber der Fußball schreibt eben auch solche Geschichten mit Wonne.

Am Abend desselben Tages jedenfalls war Lattek neuer Trainer von Borussia Dortmund, das keine andere Alternative mehr gesehen hatte. Präsident Dr. Gerd Niebaum holte den 65jährigen Fußball-Rentner, der seit siebeneinhalb Jahren nur noch als TV-Experte tätig war, ins Trainergeschäft zurück.

Das Angebot ereilte ihn am Mittwochmittag, als er seine Kolumne gerade vollendet hatte. Lattek erbat sich einen Tag Bedenkzeit, dann sagte er zu – geleitet von seinem Gewissen, das ihn fast 20 Jahre geplagt hatte: "Ich fühlte mich in der Schuld, weil Borussia Dortmund mich 1981 für den FC Barcelona freigegeben hat. Ich fühlte mich aber auch in der Schuld gegenüber dem Publikum. Wenn man die Möglichkeit hat, diese Schuld zu tilgen, ist das schön."

Damals hatte Lattek den BVB Hals über Kopf verlassen, um nach dem tragischen Tod seines Sohnes Dirk neu anzufangen. In einem anderen Land, ohne all die belastenden Erinnerungen an die schweren Tage. Menschlich war es verständlich, aber für den BVB war es fatal. Kurz vor Saisonende wurde Lattek vertragsbrüchig und Dortmund verpasste den Einzug in den Uefa-Cup. Es war kein gelungener Abgang, Lattek hatte das immer gewusst. Nun bot sich die Gelegenheit, etwas auszubügeln. Er packte sie beim Schopf.

Die Nachricht am späten Nachmittag des 13. April sorgte für Hektik in den Redaktionsstuben des Landes, diesen Aufmacher mussten alle noch ins Blatt hieven – und kommentieren. Bezeichnend war die Schlagzeile vom Spiegel auf seiner Homepage: "Kein Witz – Udo Lattek soll den BVB retten!"

Wie sollte das gehen? Hatte er nicht schon 1992 bei Schalke hingeworfen, weil er sich "nicht mehr den Hintern nassregnen" lassen wollte?

Nun musste er wieder auf den Trainingsplatz - zu Spielern, die seine Enkel sein könnten und die er nicht kannte. Borussia Dortmund stellte ihm zwei Assistenten zur Seite für die Trainingsarbeit: Matthias Sammer und Uwe Neuhaus.

Michael Zorc, der Sportdirektor, publizierte die Stellenbeschreibung des Retters aus der Rente: "Udo Lattek soll mit seinen fachlichen Qualitäten die Mannschaft führen, denn die Situation ist dramatisch. Er soll den Spielern die Unsicherheit nehmen und ihnen den Glauben zurückgeben."

Udo Lattek, der in seiner Karriere nie gegen den Abstieg spielen musste, verspürte den Reiz des Besonderen: "Ich möchte jetzt beweisen, dass man in meinem Alter noch Leistung bringen kann. Es gibt bei den Spielern offenbar eine Blockade im Kopf. Sie können nicht das Laufen und Spielen verlernt haben. Ich werde versuchen, die Bremsen zu lösen."

Das musste auf Anhieb gelingen. Von der Saison waren nur noch fünf Spiele übrig. Lattek ließ sich dafür ein exorbitantes Gehalt zusichern: eine Million D-Mark) für die fünf Spiele. Länger sollte das Engagement nicht dauern.

Am ersten Arbeitstag absolvierte er die Pressekonferenz routiniert, während Matthias Sammer meist schweigend neben ihm saß. Die Rollenverteilung wurde deutlich. Der Kicker schrieb: "Der Europameister Sammer denkt – und Lattek lenkt."

Nach seinem ersten Treffen mit der Mannschaft wollte der Retter in spe schon beinahe wieder umkehren: "Ich war schwer erschrocken. Da war eine Stimmung, als sei gerade jemand beerdigt worden. Ich dachte, das kriegst Du nie auf die Reihe."

Aber dann wurde er seinem Ruf als Motivator gerecht und riss einfach mal ein Fenster auf – damit ein neuer Geist Einzug halten könne und die schlechte Stimmung entweiche. Das beeindruckte sogar Weltmeister Jürgen Kohler.

Am nächsten Tag ging es schon ins Stadion. Der Spielplan sah den vermeintlich leichtesten Gegner vor: Schlusslicht MSV Duisburg war kaum noch zu retten, aber Lattek warnte: "Die mögen uns nicht und werden versuchen, uns mit in den Keller zu ziehen."

Das Spiel sollte ihm Recht geben.

Alle erwarteten Änderungen. Und tatsächlich standen auch drei Neue in der Elf (Karsten Baumann, Stefan Reuter und Fredi Bobic), doch die Aufstellung ergab sich nach den Ausfällen von Jürgen Kohler und Heiko Herrlich von selbst. Für die Fotografen war ohnehin die Bank-Besetzung das Wichtigste, denn dort saß der weltberühmte Trainer-Methusalem.

Udo Lattek war mit Anpfiff der Partie 65 Jahre und vier Monate alt, nur zwei Kollegen überhaupt waren in der Bundesliga-Historie älter gewesen. Er gab sich dennoch einen jugendlichen Touch und saß mit einer blauen Base-Cap vom DSF (Deutschen Sport-Fernsehen - heute Sport1), bei dem er nun vorläufig nicht mehr am Sonntagmorgen in der Talkrunde „Doppelpass“ sitzen konnte, auf der Bank. Als Entschädigung für seinen überstürzten Abgang.

Wie verlief sein Comeback?

Ein Zauberer war Lattek doch nicht, die Borussia war noch immer das verunsicherte Starensemble und geriet schon nach sechs Minuten in Rückstand. Dann erwachte sie und kam durch Otto Addo (13.) und Christian Wörns (25.) zu einer Führung. Doch weil Stürmer Fredi Bobic im eigenen Strafraum ein Foul beging, konnten sie die nicht in die Pause retten: Michael Zeyer verwandelte den Elfmeter (44.) zum 2:2. Dabei blieb es, dem BVB schwanden die Kräfte.

Lattek konzedierte "einen Hänger". Sein Präsident befand: "Dieses Pünktchen ist nur ein relativer Erfolg. Ein Schritt in die richtige Richtung. In unserer Situation muss man bescheiden sein."

Ein Punkt beim Tabellenletzten, so startet kein Wundermann.

Aber die Spieler schauten zu ihm auf und waren froh, dass er sie aus der Schusslinie nahm. Der Star war fortan der Trainer. Das merkten sie schon in Duisburg, wo der Bus abfahrbereit wartete. Nur einer fehlte: Udo Lattek. Er absolvierte einen Interview-Marathon und entschuldigte sich: "Jungs, es tut mir leid dass ich jetzt erst komme. Ich kann wirklich nichts dafür."

Für das, was dann kam, konnte er aber eine ganze Menge. Zwar verlor Borussia noch das nächste Spiel gegen Meister FC Bayern (0:1), aber mit einem 2:1-Sieg in Stuttgart und einem 1:1 gegen Schalke schaffte Lattek die Rettung sogar schon vor dem letzten Spieltag. Übrigens nur, weil Eintracht Frankfurt vom Sportgereicht zwei Punkte abgezogen wurden. So reichte ihm ein Sieg aus vier Spielen – das war leichter als gedacht. Der Plan mit Lattek war jedenfalls aufgegangen.

Gerd Niebaum versuchte ihn prompt für die nächste Saison weiter zu verpflichten. Doch Lattek lehnte ab. Die Mannschaft verschaffte ihm bei Hertha BSC (3:0) sogar noch einen würdigen Abschied von der Bundesliga-Bühne, dann legte sich die Aufregung in Dortmund wieder. Dass sein Lehrling Sammer den Job übernahm, war für die Medien nicht annähernd so interessant wie das Comeback des alten Meisters.

Weil das Modell Lattek so gut fruchtete, versuchten in der Folge etliche Vereine in Abstiegsnot erfahrene Haudegen als Retter einzusetzen. So kamen Hans Meyer, Rolf Schafstall oder Friedhelm Funkel im Rentenalter noch zu Bundesliga-Ehren. 2012 versuchte auch der da schon 73jährige Otto Rehhagel, Udo Latteks ewiger Rivale, sein Glück. Er fand es nicht.

  • Fun Fact 1: Als BVB-Präsident Niebaum nach der Einigung mit Lattek in seinen fabrikneuen Mercedes stieg, rief der Trainer ihm nach: "Wir sind uns ja quasi einig über die Finanzen. Aber so einen Wagen hätte ich auch gerne." Niebaums Konter: "Du blöder Hund. Aber gut, du bekommst einen." Lattek hat ihn aber nie gefahren – zu lange Lieferzeit. Also hat er ihn sich auszahlen lassen.
  • Fun Fact 2: Seine Lehrzeit beim Oldie machte sich für Matthias Sammer bezahlt. 2002 führte er Borussia mit 34 Jahren zum Titel und ist noch immer der jüngste Meistertrainer der Bundesliga-Historie.

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