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Als in Madrid ein Tor zu früh fiel

Im Champions-League-Finale am 1. Juni spielt Borussia Dortmund gegen Bayern-Bezwinger Real Madrid. Erinnerungen an 1998 werden wach

Foto: Imago / Sven Simon

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Wenn eine deutsche Mannschaft zum Halbfinale der Champions League nach Madrid muss, darf man sich auf einiges einstellen. Die Bayern wissen das am besten: 1976 wurde Gerd Müller von einem Rowdy niedergeschlagen, 1987 flog eine Eisenstange in den Strafraum und noch immer beschwören sie, 2017 vom Schiedsrichter verschaukelt worden zu sein. Das spektakulärste Erlebnis im Santiago Bernabeu ereignete sich allerdings beim Gastspiel von Borussia Dortmund, als ein Tor fiel, das in keiner Statistik auftauchte, obwohl es auch nicht annulliert wurde. Rückschau auf den April 1998.

1997 hatte Borussia Dortmund überraschend die Champions League gewonnen. Dann ging Trainer Ottmar Hitzfeld in die zweite Reihe und gab den Sportdirektor, der Italiener Nevio Scala löste ihn ab. In der Bundesliga tat sich der BVB schwer und landete auf einem peinlichen zehnten Platz. International aber knüpften die Borussen an die erfolgreichen letzten Jahre an und erreichten nach einem 1:0 im deutschen Duell gegen die Bayern wieder das Halbfinale. Dort bekamen sie das Traumlos Real Madrid, immerhin mit dem Rückspiel zuhause. Das Hinspiel sollte am 1. April stattfinden und auch wenn sich so mancher Zuschauer auf einen April-Scherz von RTL-Moderator  Günter Jauch oder dem Kommentator Marcel Reif einstellte – das, was sich dann ereignete, war Ernst.

An diesem Abend ereignete sich  eines der kuriosesten Schauspiele in der Historie des Europapokals. 12,76 Millionen Zuschauer saßen fassungslos vor ihren Bildschirmen und wünschten sich wie die 85.000 im Stadion sehnlichst ein Tor. Denn das fehlte noch, damit das Halbfinale endlich angepfiffen werden konnte.

Es war eine Groteske, das „Tor-Huwabohu von Madrid“ (Bild Zeitung) ging in die Geschichte ein. Was war geschehen? Rund 50 heißblütige Fans von Real Madrid, die berüchtigten „Ultrasur“, hatten drei Minuten vor dem Halbfinale gegen den Titelverteidiger ein bisschen zu heftig am Zaun gerüttelt, auf dem sie selbst vorschriftswidrig saßen. Der stürzte ein und mit ihm das daran befestigte Tor. Drei Rowdys mussten ins Krankenhaus, beide Pfosten waren gebrochen. Der niederländische Schiedsrichter Mario van der Ende schickte die 22 Spieler prompt wieder in die Kabinen, während Ordner in Blaumänner vergeblich versuchten, das Tor wieder aufzurichten.

„Jetzt bin ich mal gespannt, ob die das alles wieder piccobello hinkriegen“, unkte Marcel Reif. Zwei etwa 80 Zentimeter lange Kanthölzer wurden herbeigeholt und Reif („Meine Kenntnisse als Ingenieur sind beschränkt“) wagte eine Prognose: „Ich könnte mir vorstellen, dass sie jetzt die Holzpflöcke reinschlagen und dann das Tor draufstellen“, schließlich seien die Pfosten ja innerlich hohl. Jauch witzelte über seinen Kollegen, „den Heimwerker und Hilfsdiplomingenieur Reif“ und brachte das erste Bonmot des Abends: „Das erste Tor ist in der nullten Minute gefallen.“ In der folgenden Stunde, in der kein Fußball gespielt wurde, unterhielten die beiden TV-Männer das Publikum, jedenfalls das vor dem Bildschirm, auf grandiose Weise. Sie verdienten sich mit Sprüchen wie „Noch nie hätte ein Tor einem Spiel so gut getan wie heute hier“ den Grimme-Preis. Und den Hinweis auf das Datum konnte sich Reif auch nicht verkneifen: „Es ist 1. April, Leute. Aber das ist alles kein Gag, was wir ihnen da zuhause unterjubeln. Das ist Realtität.“

Das war das Beste aus deutscher Sicht. Gespielt wurde nämlich auch noch. Aber das dauerte, im Stadion war ja kein Ersatztor, was „fast jeder C-Liga-Verein auf seinem Trainingsgelände“ hat, wie der Kicker mäkelte. Das Fachblatt musste am Donnerstag ohne Spielbericht erscheinen, der Druckbeginn ließ sich nicht weiter herauszögern –und so erging es auch fast allen deutschen Zeitungen.

Aus dem zwei Kilometer entfernten Trainingszentrum von Real wurde sodann ein Ersatztor per Tieflader herangekarrt, der um ein Haar im Stadiontunnel stecken geblieben wäre. Bei dem Manöver wurde einem Polizisten die Mütze vom Kopf geschlagen, er war zu nahe an das auf dem Laster schwankende Tor geraten.

Auf dem Rasen wurde es mit Haken befestigt, was aus gutem Grund längst aus der Mode gekommen war, aber in dem Fall heiligte der Zweck die Mittel.

75 Minuten nach dem Zwischenfall war das Ersatztor errichtet, aber Borussia schon nicht mehr spielfähig. BVB-Präsident Gerd Niebaum: „Die Anspannung ist weg. Das war eine Farce. Eine geordnete Vorbereitung war nicht möglich.“

Der Terminplan erlaubte keinen Verzug, es musste gespielt werden und der Titelverteidiger verlor durch Tore von Morientes und Karembeu 0:2. Noch im Stadion unterschrieb Kapitän Stefan Reuter eine Protestnote, die der Vorstand am übernächsten Tag zurückzog – angeblich aus Sorge um die deutsche WM-Bewerbung für 2006, wo man auch auf die spanische Stimme zählte. Real behielt den Sieg, aber von Medienschelte wurden die Königlichen nicht verschont. „Welch eine Schande, welch ein Fauxpas“, schrieb die spanische Zeitung AS. Die Uefa verurteilte Real Madrid zu einer Platzsperre für zwei internationale Spiele, doch der Cup-Gewinn entschädigte den Klub und seinen deutschen Trainer: Jupp Heynckes.

  • Fun Fact 1: In der Nacht nach dem Spiel schlichen sich BVB-Pressesprecher Josef Schneck und Geschäftsstellenleiter Christian Jockenhos auf den Rasen und vermaßen das Ersatztor. Ergebnis: der rechte Pfosten war drei Zentimeter zu niedrig, der linke dreieinhalb.
  • Fun Fact 2: im Rückspiel fiel gar kein Tor, Borussia schied nach dem 0:0 aus.

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