zum Inhalt

Als Borussia Dortmund 1:11 in München verlor

1971 erlebte der BVB die schwärzeste Stunde seiner Bundesliga-Geschichte. Das Debakel an der Grünwalder Straße ist unvergessen

Uli Hoeneß zieht ab. Foto: Imago / Werek
Uli Hoeneß zieht ab. Foto: Imago / Werek

Inhaltsverzeichnis

Der deutsche Classico wurde in den Neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geboren, als Bayern München und Borussia Dortmund sich regelmäßig und mit wechselndem Sieger um die Meisterschaft stritten. In den letzten Jahren gab es meist nur einen Sieger, sowohl im Spiel als auch in der Meisterschaft: die Bayern. Gerade zuhause gab es häufig deutliche Siege. Aber keiner reicht heran an ein Spiel, das im Grünwalder Stadion ausgetragen wurde und das noch immer Bayerns höchster Bundesligasieg ist. Eine Resie in den November 1971, als Bayern und den BVB Welten trennten.

Sie waren die ersten deutschen Europapokalsieger. 1966 triumphierte Borussia Dortmund im längst abgeschafften Europapokal der Pokalsieger, 1967 taten es ihnen die Bayern gleich. Während die Münchner am Anfang einer großen Ära standen und diesem Erfolg viele folgen ließen, hatte Borussia den Zenit überschritten. Nie wurde das deutlicher als in der Saison 1971/72, als die Bayern mit einem Torrekord Meister wurden und der BVB zum einzigen Mal abstieg.

Eine fatale Transferpolitik hatte dem BVB im Sommer nur finanzielle Vorteile erbracht, einem Plus von 217.000 D-Mark standen 10:20 Punkte gegenüber. Als Fünfzehnter kamen sie an jenem 27. November 1971, vor dem der Kicker schreibt: „Die Borussen werden am Freitag nur mit der Hoffnung nach München fliegen, nicht zu arg unter die Räder zu kommen.“ BVB-Trainer Horst Witzler wüscht sich „eine knappe Niederlage“. Damit wird es nichts werden.

Es kommt zum höchsten Sieg der Bayern im Oberhaus, denn freilich viel zu wenige Zuschauer sehen. Warum? Die Stadt München hat zwar die Olympischen Sommerspiele 1972 bekommen, aber das Stadion ist noch nicht fertig. So spielen Beckenbauer & Co ihre letzte Saison im Grünwalder Stadion, das sie sich immer noch mit den 1970 abgestiegenen Löwen des TSV 1860 teilen mussten.

1971 sind die Bayern noch nicht die Nummer 1 im Land, sie sind es nicht mal in der eigenen Stadt, was Popularität angeht. Aber an diesem tristen Herbstsamstag bekommt die Fußballwelt einen Vorgeschmack auf das, was dieser Verein in den Goldenen Siebzigern zu leisten im Stande sein wird.

18.000 Besucher finden sich ein an der Grünwalder Straße, wo es nie eine Laufbahn gegeben hat und die Zuschauer so dicht am Spielfeld stehen und sitzen wie fast nirgendwo sonst in der Bundesliga. Aber es ist das Jahr, in dem der Bundesligaskandal vor Gericht verhandelt wird. Bayern und der BVB haben damit nichts zu tun, aber wer weiß das damals schon mit Gewissheit? Täglich gibt es neue Enthüllungen und Verdächtigungen. Mit der Folge, dass der Liga die Fans weglaufen. Dazu kommt die Kälte, am Spielfeldrand liegt Schnee.

Der FC Bayern, Tabellenzweiter hinter Schalke, vermeldet sogar noch den zweitbesten Besuch an diesem 15. Spieltag 1971/72.

Sein junger Trainer Udo Lattek beantwortet am Vormittag die letzte offene Frage; auf Rechtsaußen stürmt Franz Krauthausen statt Edgar Schneider, alle sechs Nationalspieler sind an Bord. Der BVB, unverhofft in der Abstiegszone gelandet, hat keine zu bieten, seit Lothar Emmerich und Siggi Held das Weite gesucht haben. Torwart Jürgen Rynio hat Jahrzehnte später in Erinnerung an das 1:11-Debakel gesagt: „Ein bis zwei Jahre vorher wäre das nicht passiert, da hatten wir noch einige ältere Spieler in unseren Reihen gehabt. Wir waren eine junge Mannschaft, die im Neuaufbau stand.“

Ja, was passiert denn eigentlich? Entfesselten Bayern fehlt es zunächst an Präzision, Franz „Bulle“ Roth und Franz Krauthausen treffen den Pfosten, ehe der Mann zuschlägt, der meist auch das Tor trifft: Gerd Müller eröffnet nach zwölf Minuten den Reigen, Vorlagengeber Uli Hoeneß erhöht alsbald per Kopf – welch Seltenheit – auf 2:0. Nach 22 Minuten notieren die Reporter den ersten Dortmunder Torschuss, Sepp Maier pariert den Ball von Dieter Weinkauff. Als Willi Hoffmann, nicht verwandt geschweige denn identisch mit dem späteren Bayern-Präsidenten, nach 39 Minuten das 3:0 markiert, stellt niemand mehr die Frage nach dem Sieger. Nur mit einem historischen Debakel ist noch nicht zu rechnen. Auch nicht als Trainer Witzler seinen eisenharten, aber indisponierten Verteidiger Werner Lorant, absolut identisch mit dem späteren Trainer der Münchner Löwen, schon vor der Pause auswechselt. Es fruchtet nicht, Müller macht per Volleyschuss noch das 4:0. In der Halbzeit sagt Tschik Cajkovski, Bayerns erster Bundesligatrainer, in seinem drolligen Deutsch: „Die Dortmunder Jungen nicht so schlecht, müssen nur viel, viel offensiver spielen.“

Kein guter Ratschlag beim Stand von 0:4, aber obwohl sie ihn nicht gehört haben, scheinen ihn die Borussen zu verfolgen. Den Bayern kommt es entgegen, sie stoßen mit Wonne in jede Lücke, die ihnen die auseinanderfallende Borussia öffnet. Während Sepp Maier sich eine lange Hose angezogen hat, um nicht zu frieren, heizen seine Mitspieler dem Kollegen Rynio kräftig ein. Zehn Minuten nach Wiederanpfiff haben Hoeneß und Beckenbauer schon auf 6:0 aufgestockt. Dann kommt der große Moment von Weinkauff, der nach einem Münchner Fehlpass das Ehrentor markieren darf. Es steigt ihm zu Kopf, denn auf dem Gang in die Kabinen wird er sagen: „Ein Weinkauff genügt halt nicht!“ Was seine Mitspieler so semi gut finden, Rynio will ihm „am liebsten an die Gurgel“ gehen.

Breitner und Roth reagieren auf den Ehrentreffer, nach 64 Minuten steht es 8:1. Rynio fragt sich, „ob die eigentlich zweistellige Ergebnisse zeigen können an der Anzeigetafel. An so was denkt man als Torwart, wenn die Dinge so laufen.“ Er wird eine Antwort darauf bekommen, denn es wird zweistellig.

Zum dritten Mal in der Bundesligageschichte, zum ersten Mal in der beider Klubs. Noch zwei Müller-Böller, dazwischen ein 20-Meter-Schuss von Roth und fertig ist Bayerns Rekordsieg – 11:1!

Grotesk: In den Katakomben hört man dennoch schimpfende Bayern. Uli Hoeneß, erst 19 Jahre jung, ist selbstkritisch: „Wenn wir so hoch führen, fehlt mir einfach der richtige Ehrgeiz. Fünf Tore hätte ich schießen können.“

Auf der Pressekonferenz zeigt Udo Lattek Mitleid mit dem BVB: „Wenn ein Spiel so läuft, dann versucht sich jeder Einzelne so gut freizuschwimmen wie es geht. Von Taktik kann man da nicht mehr reden.“ Horst Witzler bekennt wenig überraschend, es sei „die katastrophalste Niederlage, die ich in meiner 13jährigen Trainer-Laufbahn habe erdulden müssen“. Er zeigt mit dem Finger auf seinen Vorstand, der ihm eine dermaßen unerfahrene Mannschaft überlassen habe mit Spielern, die ja „regelrecht vom Lande geholt“ worden seien „und nun stehe ich da und muss den Scherbenhaufen kitten“.

Eine Woche später fliegt Witzler. Ein halbes Jahr später steigt die Borussia ab –  mit den meisten Gegentoren ihrer Historie. Bayern dagegen wird Meister und stellt einen Torrekord auf – er liegt noch immer bei 101.

  • Fun Fact 1: Ein zweistelliges Ergebnis konnte die von Hand betriebene Anzeigetafel zwar darstellen, aber drei Einsertafeln hatten sie nicht im Grünwalder. Also nahm der Bediener die der Eins am meisten ähnelnde Ziffer Sieben, so dass aufmerksame Betrachter ein 71:1 lesen konnten.
  • Fun Fact 2: Nur einmal verlor Borussia noch höher in der Bundesliga: Am 29. April 1978 mit 0:12 bei Borussia Mönchengladbach. Der gegnerische Trainer war auch damals Udo Lattek 

Kommentare

Aktuelles