Armer Kimmich: Superstar ohne Weltmeistermannschaft
Fever Pit'ch-Kolumnist Alex Steudel über den vielseitigsten deutschen Nationalspieler seit Ewigkeiten, der ein großes Problem hat

Foto: IMAGO/MIS
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Über Joshua Kimmich freue ich mich ständig. Selten gab es einen deutschen Nationalspieler mit so vielen Fähigkeiten. Er beherrscht hinten rechts, er beherrscht defensives Mittelfeld, er beherrscht das gesprochene Wort: Kimmich ist gewitzter Gesprächs- und deshalb erster Ansprechpartner in Sachen Öffentlichkeitsarbeit. Kimmich ist auch Spielerberater, nämlich sein eigener. So spart man beachtliche Summen. Ein Schwabe halt.
Tore schießt der 30-Jährige neuerdings obendrein – zuletzt zwei beim 4:0 in der WM-Quali gegen Luxemburg. Hab‘ ich was vergessen?
Ach ja: Kimmich ist außerdem Kapitän der Nationalmannschaft. Der Mann ist das Schweizer Taschenmesser des deutschen Fußballs.
Ich musste deshalb eben an Paul Breitner denken. Die Spielerlegende der 70er und 80er Jahre war ebenfalls besonders vielseitig. Er konnte sowohl links hinten als auch Mittelfeld. Beim FC Bayern trug er die Kapitänsbinde, im DFB-Team war er Wortführer. Ein ungemütlicher Typ, der Probleme offen ansprach, aber eher die der anderen. Bei der WM 1982 schubste er während eines Interviews vor Wut fast die kritisch fragende Reporterlegende Harry Valérien in einen Pool.
Damals war Deutschland so erfolgreich, dass man selbst am Einzug in ein WM-Finale was zu kritteln hatte. Breitner spielte in einer Mannschaft, mit der man jederzeit aus Versehen Weltmeister werden konnte – etwas, das die Nationalelf Kimmich heute leider nicht mehr bieten kann.
Behaupte ich zumindest mal, denn die Auftritte des DFB-Teams der Neuzeit lassen deutlich weiter Weltmeisterfeeling aufkommen als früher mit Breitner, der den wichtigsten Pokal der Welt 1974 gewann, 1982 Vizeweltmeister wurde und, als würde das nicht reichen, in beiden Endspielen ins Tor traf.
Ach, denke ich manchmal, wären doch alle deutschen Spieler so wie Breitner damals oder Kimmich heute, dann müssten wir nicht so leiden! Leider sind sie es nicht, man muss sich nur die Namen anschauen. Als Bundestrainer Julian Nagelsmann kürzlich seinen Kader nominierte, spukte das eine oder andere Mal der Gedanke „Ah, den gibt’s also noch!“ durch meinen Kopf. Baku zum Beispiel war bei mir seit Langem unter „Hauptstädte in Vorderasien“ abgespeichert.
Doch es wäre ungerecht, die Weltmeisteruntauglichkeit Deutschlands am Leipziger festzumachen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Spieler wie Raum, Baumann, Nmecha oder Amiri ebensowenig WM-Garanten sind.
Kimmich kennt zwar WM-Endspiele auch nur aus dem Fernsehen, aber das liegt daran, dass er Pech mit seiner Ära hat: Er ist zur falschen Zeit am falschen Ort. Inhaltlich kommt er der Sache im DFB-Kader am nächsten, das muss man ihm lassen.
Kimmich hat nämlich immerhin den Champions-League-Henkeltopf im Sack. Er läuft damit nicht Gefahr, bester deutscher Spieler der Geschichte zu werden, der keinen großen Pott gewann. Dieser Titel ist Michael Ballack einfach nicht zu nehmen. Das ist doch immerhin was.
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