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Vor 40 Jahren: Olaf Thons magische Pokalnacht

Beim torreichsten Pokalhalbfinale vor 40 Jahren sorgt ein 18-Jährige für die Schalker Sensation und zwingt Bayern zu einem Wiederholungsspiel

Foto: Imago / Sven Simon

Inhaltsverzeichnis

Die Halbfinalspiele im diesjährigen DFB-Pokal liefen relativ unspektakulär. Zwei Favoritensiege, jeweils ohne Gegentor. Keine Verlängerung oder gar Elfmeterschießen. Nichts für die Ewigkeit. Wie anders ging es doch da vor 40 Jahren zu, als vier Mannschaften zusammen über vier Stunden kickten, 21 Tore fielen und dann immer noch kein Finale feststand. Dafür war ein Star geboren, kaum dass er ein Mann war. Von ihm und dem zweiten Halbfinale wollen wir heute erzählen. Rückschau auf den frühen Mai 1984.

Am Abend des 1. Mai 1984 saßen die Spieler von Schalke 04 im Trainingslager Loemühle in Marl zusammen und sahen das erste Pokal-Halbfinale zwischen Borussia Mönchengladbach und Werder Bremen. Es endete nach wilden Irrungen und Wirrungen 5:4 nach Verlängerung. Schalkes Mittelfeldrenner Bernd Dierßen erzählte später: "Wir haben damals gesagt: 'So ein Spiel gibt es nur alle zehn Jahre'." Ein ebenso historischer wie verzeihlicher Irrtum.

Schon 26 Stunden später wurde es von seiner eigenen Mannschaft übertroffen. Davon war nun wirklich nicht auszugehen. Maßen sich am Bökelberg zwei Spitzenteams der Bundesliga auf Augenhöhe, klaffte bei dieser Partie formal ein Klassenunterschied auf. Schalke 04 spielte seit Sommer 1983 zum zweiten Mal binnen drei Jahren in der Zweiten Liga, die Bayern dagegen wie gewöhnlich um die Meisterschaft – wenn es auch noch die große Zeit des HSV war.

Dennoch kamen an diesem verregneten Mittwochabend offiziell 70.600 Menschen ins Gelsenkirchener Parkstadion in der Hoffnung auf ein königsblaues Wunder. In Wahrheit waren es rund 80.000. Da konnte der Vorstand großzügig sein und bot eine Siegprämie von 10.000 D-Mark pro Kopf. Auch weil das Spiel im ZDF übertragen wurde. Der DFB machte sich damals locker, erstmals wurden Halbfinal-Übertragungen im Live-TV erlaubt. Es hat wohl nie bessere Werbung für den DFB-Pokal gegeben als an diesen beiden Tagen. Im Gegensatz zum ersten Halbfinale, das erst nach der Pause Fahrt aufnahm, ging es auf Schalke flott los. Wer zu spät einschaltete, verpasste einiges.

Nach 20 Minuten waren bereits fünf Treffer gefallen, denn ein Tor kam selten alleine. Karl-Heinz Rummenigge und Reinhold Mathy sorgten für eine standesgemäße Führung der Bayern, die ersten Fans machten sich schon wieder auf den Heimweg. Doch ein Verteidiger namens Thomas Kruse verkürzte im Gegenzug auf 1:2. Dann fiel der erste Treffer des Mannes, der an diesem Tag weltberühmt wurde. Olaf Thon, ein Gelsenkirchener Junge, am Vortag erst 18 Jahre geworden, wurde nun auch als Fußballer volljährig.

Dass er in seinen Geburtstag mit 80 Gästen bis 1.30 Uhr in der Früh hineingefeiert hatte, das merkte man ihm nicht an. Unter Aufsicht von Manager Rudi Assauer, der am Zapfhahn stand, hatte er es wohl auch nicht ganz so doll getrieben. Außerdem verträgt man in diesem Alter so viel mehr als in jedem anderen.

Dieser kleine Kerl, längst Stammspieler in der Zweitligamannschaft, war jedenfalls nicht zu halten an diesem 2. Mai 1984.

Er versetzte gestandene Profis wie Slalomstangen, schoss aus allen Lagen und mit beiden Füßen. Auf sein 2:2 reagierten die Bayern aber postwendend durch einen Mann, der ähnlich kometenhaft gestartet war, aber unter der Last seines großen Namens beinahe zerbrochen wäre. Der 20-jährige Michael Rummenigge stellte die Bayern-Führung wieder her. Kaum zu glauben, dass dann 41 Minuten lang gar kein Tor fiel. Kein Geringerer als der nur 1,70 Meter kleine Thon beendete die Torflaute, nun erschien er in der Rolle des Kopfball-Ungeheuers.

"Meine Spieler haben den kleinen Kerl doch gar nicht ernst genommen", sagte Bayern-Trainer Udo Lattek später. Das Stadion toste nach dem 3:3, die ersten bekamen eine Ahnung davon, dass das Drama vom Bökelberg noch in den Schatten gestellt werden könnte. Die Schalker bekamen Flügel, Thon spürte: "Die haben richtig Schiss." Verteidiger Peter Stichler gab ihnen allen Grund dazu, als er nach 72 Minuten Schalke erstmals in Führung köpfte – 4:3.

Nun zog Udo Lattek seinen Joker und brachte den langen Dieter Hoeneß, Typ Brechstange, dessen Bruder Uli in seiner Funktion als um die Finanzen besorgter Manager unruhig auf der Bank herumrutschte. Michael Rummenigge verhinderte das Schlimmste mit einem weiteren Kopfballtor (80.) und so ging auch das zweite Halbfinale nach einem 4:4-Zwischenstand in die Verlängerung.

Die Abnutzungsschlacht bei Dauerregen gebar noch weitere Helden und Sündenböcke. Ausgerechnet der frühere Bayern-Torwart Walter Junghans ließ in der 112. Minute einen schon gesicherten Ball wieder los, Dieter Hoeneß stolperte ihn zum 4:5 ins Netz. ZDF-Reporter Eberhard Figgemeier verkündete "die Vorentscheidung". Schalkes Spieler kümmerten sich nicht darum.

"Der Walter Junghans hat uns so Leid getan. Wir haben uns gesagt: Er ist so ein netter Kerl und hat es einfach nicht verdient, als Verlierer vom Platz zu gehe"“, nannte Thon 2009 in einem Jubiläumsbeitrag des WDR ein Motiv für die Aufholjagd. Der Kapitän ging mit gutem Beispiel voran.

Bernard Dietz, schon 37 und als Bayern-Schreck bekannt (schoss als einziger Verteidiger 1977 mit dem MSV Duisburg mal vier Tore gegen Bayern), kam nach einer Ecke frei zum Schuss und überwand Torwar Jean-Marie Pfaff ein fünftes Mal. Das war fünf Minuten vor dem Ende. 5:5! Daran erinnerte sich mancher Schalke-Fan, so hieß es auch 1973 gegen die Bayern – bis heute das Rekord-Remis in der Bundesliga. Nun holte sich diese Paarung den Pokal-Rekord.

In der 117. Minute enteilte Dieter Hoeneß den Verteidigern und überwand Junghans erneut – 5:6. "Ist das die Entscheidung? Ja!", legte sich Figgemeier nun aber wirklich fest, als hätte er die Magie dieses Abends immer noch nicht erfasst.

Unter dem Schalker Flutlicht wurden an diesem Abend die Grenzen des Denkbaren verschoben. Und so bekam der kleine Mann mit der großen Zukunft und der Nummer Zehn auf dem Rücken zu seinem letzten Auftritt. Schiedsrichter Wolf-Günter Wiesel ließ drei Minuten nachspielen und munterte Olaf Thon sogar auf: "Komm Olaf, den einen Angriff noch." Thon dazu: "Das hatte überhaupt nichts mit irgendeiner Parteilichkeit zu tun, das war ein Ausdruck von Menschlichkeit, in dieser besonderen Situation zum Underdog zu halten."

Es gab also noch einen Freistoß von Dierßen, Augenthaler köpfte nicht weit genug weg. Der Ball fand seinen Weg zum Liebling des Schicksals: zu Olaf Thon, dem der die Sensationen magisch anziehende ZDF-Reporter Rolf Töpperwien im Interview auf dem Rasen entlockte, dass er eigentlich in Bayern-Bettwäsche schlafe. Diesmal schoss Thon mit links, volley in den Winkel. 6:6!

Ein solches Ergebnis gab es nie zuvor und niemals wieder im DFB-Pokal, ein solches Erlebnis schon gar nicht. Drei Zuschauer erlitten im Stadion einen Herzinfarkt, ein 60-Jähriger verstarb.

Die Schattenseite eines unvergesslichen Abends, auf den Thon bis heute angesprochen wird. Er entgegnet dann gern: "Es war das schönste Spiel in meiner Karriere. Ich sage immer scherzhaft: Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich aufhören müssen." Er spielte dann doch noch ein paar Jährchen, vier davon in München, und wurde 1990 Weltmeister. Udo Lattek hätte ihn am liebsten gleich mitgenommen, doch Schalkes Schatzmeister verlangte im Scherz zwölf Millionen D-Mark. Da mussten die Bayern noch vier Jahre sparen und warten. Dann bekamen sie ihn für 3,4 Millionen. 

Wie ging es weiter im Pokal? Die Regeln sahen damals noch ein Wiederholungsspiel vor, das die Bayern in München mit Mühe 3:2 gewannen. Da ging Olaf Thon mal leer aus…

  • Fun Fact 1: Uli Hoeneß war so wütend, dass er den Rückflug strich und die Mannschaft gleich nach Hamburg durchstarten ließ, wo am Samstag das nächste Spiel anstand.
  • Fun Fact 2: Es war zwar das höchste Unentschieden in der Endrunde, auf Landespokalebene aber trennten sich am Neujahr 1956 der 1. FC Kaiserslautern mit Fritz Walter und der 1. FC Saarbrücken 7:7.
  • Fun Fact 3: Als Thon am 2. Mai nach Hause kam, wartete die Familie und die Freundin auf ihn um zu feiern. Aber er war so kaputt dass er gleich ins Bett ging.

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